Der Föhn dröhnt in Nina Müllers Ohren. Sie sitzt morgens um 8.30 Uhr im Stuhl des Coiffeurs ihres Vertrauens. Heute lässt sie nur die Haare waschen und die Spitzen schneiden, die Augen auf ihr Telefon fixiert. Die 51-Jährige hat viel zu tun. Im April hat sie die Führung des Zürcher Traditionshauses Jelmoli übernommen. Kühn, einerseits, weil das mitten im Lockdown war, andererseits, weil Warenhäuser auch schon bessere Zeiten gesehen haben.
Müller wohnt seit 2011 im noblen Zürcher Seefeld-Quartier. Seither hat sie zahlreiche Lieblingsplätze in der Stadt entdeckt, wie Reto Holzer Raphael Hofstetter Coiffeurs. «Vielen Dank, bis zum nächsten Mal», ruft sie Richtung Theke. «Alle drei Wochen komme ich zum Nachfärben her», sagt sie und zwinkert.
Ein paar Meter entfernt vom Salon liegt das Monocle Café. Das metropolitane Feeling gefällt der gebürtigen Österreicherin. Sie lebte in Mailand, London und Wien, ihrer «Herzensstadt». Schon über 18-mal hat sie ihr Zuhause gewechselt. «Ich ziehe dahin, wo ich mich gerade wohlfühle», sagt sie. In Zürich wohnt die Single-Frau in einer Loftwohnung. Eine Konstante ist ihr Traum von einem Haus am Meer. Doch egal, wo sie gerade lebt: «Mein Elternhaus in Feldkirch ist mein sicherer Hafen.» Dort besucht sie regelmässig die Mutter und den Bruder.
Dann erwacht ihr Geschäftssinn, und sie spricht den Chef des Cafés auf eine Zusammenarbeit an. Ihr schwebt ein Monocle Pop-up-Store im Jelmoli vor. Das Café verkauft auch Kleider, Taschen und Einrichtung. «Es gibt doch nichts Schöneres als den direkten Kontakt», sagt sie und zieht ein paar Gebäude weiter zu Susanne Wismer Blumen, ihrem liebsten Blumenladen im Quartier.
«Hortensien sind meine Lieblingsblumen.» Müller zieht ihre Gesichtsmaske leicht runter, damit sie den vollen Duft geniessen kann. Von hier holt sie Pflanzen für ihren Balkon. Die Bürodekoration kauft sie in Alfons’ Blumenmarkt im Jelmoli. «Ich bin ein Warenhaus-Fan, liebe aber auch lokale, kleine Geschäfte.» Müller versucht, mehr schweizerische Kleinunternehmen in ihr Warenhaus zu holen.
«Ah, jetzt weiss ich, wo Sie hingehören!», ruft Susanne Wismer, 57, die Inhaberin des Blumenladens. Sie habe Müller einige Male im Laden gesehen, aber nicht erkannt. «Ich hatte Mitleid, als ich gelesen habe, dass Sie im Lockdown ihre Stelle antraten», sagt Wismer.
Bei Nina Müllers Stellenantritt waren die Einkaufszentren bis auf die Gastro-Bereiche geschlossen. «Es war ein sehr emotionaler Tag, als wir wieder komplett öffnen durften», erinnert sie sich. Sie stand am Eingang des Department Store und begrüsste die Kundinnen und Kunden höchstpersönlich. «Zu Beginn verkauften wir so viel wie in der Vorweihnachtszeit, das war erfreulich. Im Sommer spürten wir die Ferienzeit. Nun bleiben viele in der Schweiz und kommen einkaufen. Ich bin zufrieden.» Sie hat mit Jelmoli Grosses vor. Am 5. November eröffnete sie neue Verkaufsflächen in The Circle, dem neuen Einkaufszentrum neben dem Flughafen Kloten. Und Müller treibt die Erstellung eines Omnichannels voran – kurz: Das Einkaufserlebnis soll über digitale und physische Kanäle laufen. Von der Bestellung über den Kauf bis zur Reparatur.
Müller und Jelmoli, das passt. Sie habe Spass an «Mode und schönen Dingen». Auf dem Arbeitsweg trägt sie weisse Turnschuhe des Schweizer Labels On, eine Armani-Bluse, am Arm eine Dior-Tragtasche. «Ich mag Marken. Aber das Wichtigste ist doch, dass es bequem ist.» Auf den CEO-Sessel hat sie es durch Eigeninitiative geschafft. Als ihr Vorgänger Franco Savastano abtritt, weiss sie: «Das ist mein Job!» Sie hört wie so oft auf ihr Bauchgefühl, bekundet im Verwaltungsrat ihr Interesse und erhält die Stelle. Ungewöhnlich für die Rekrutierung einer CEO. «Bescheidenheit ist eine schöne Tugend», sagt Müller. «Aber wenn man sein Licht unter den Scheffel stellt, ist das schade. Leider tun das viele Frauen in der Geschäftswelt.»
Besuch bei Tisch Made CH: Dölf Bachmann, 64, geht seit 30 Jahren seiner Berufung nach und stellt Tische in der Zürcher Altstadt her. Müllers Tisch – «das Herzstück meines Lofts» – stammt von ihm. Bachmann kreiert und restauriert den Tisch auf Kundenwunsch und aus altem Holz, abgestimmt auf den Charakter der Kundin und die gewünschte Funktion und Stimmung. Dazu führt er lange Gespräche über die Bedürfnisse
der Kunden. «Sie wusste zum Glück ganz genau, was sie wollte», so der Tischler, der sich gut an Müller erinnert. Um die Tafel versammelt sie gerne Freundinnen und Freunde, die sie mit Wiener Schnitzel bekocht.
Die letzte grosse Party war Müllers 50. Geburtstag, «keine einfache Schwelle». Die Managerin ist alleinstehend und kinderlos. «Es war kein bewusster Entscheid, keine Familie zu gründen. Es sollte halt einfach nicht sein.» Sie sei froh, das «Hätte-täte-sollte-Gen» nicht zu haben. «Ich führe ein sehr glückliches Leben.»