Es gab eine Zeit in Jérémy Desplanches’ Leben, da benahm er sich nicht so, wie man es von einem Spitzensportler erwarten würde. Er war inkonsequent, faul, nicht besonders ehrgeizig. Der Genfer, der seiner älteren Schwester als Achtjähriger in den Schwimmklub folgte, schwänzte als Teenager regelmässig Trainings und vergnügte sich
lieber im Freestyle-Park auf den Rollerblades oder dem Skateboard. «Ich wusste nicht recht, was und wohin ich wollte. Ich hatte aber viel Energie und probierte einfach vieles nach Lust und Laune aus.» Auch in der Schule hatte er nur Flausen im Kopf. Weswegen ihn die Eltern, die in Genf eine Konditorei-Kette mit gesundem Fast Food führen, für drei Monate nach England schickten, damit ihr Sohn neben der Sprache auch Selbstständigkeit lerne.
Ob diese Erfahrung den Ausschlag gab oder ob es der natürliche Prozess des Älterwerdens war, kann der Genfer nicht sagen. Doch eins ist sicher: Sein Lebensstil hat sich seither um 180 Grad geändert. Aus Trägheit wurde Fleiss, aus seiner Orientierungslosigkeit kompromissloser Fokus. Täglich trainiert er vier bis fünf Stunden, meistens zwei Einheiten im Wasser, dazu kommen je nach Jahreszeit Spezialstunden im Trockenen: von Krafttraining über Yoga und Pilates bis zu Taekwondo. «Ich trainiere, esse und schlafe. Für anderes hat es in meinem Leben keinen Platz. Und ich hätte auch keine Energie dafür», sagt Desplanches, der als 19-Jähriger Richtung Nizza aufbrach, um seine Schwimmkarriere voranzutreiben. Seither lebt er an der Côte d’Azur und trainiert unter dem französischen Startrainer Fabrice Pellerin, der als besonders harter Schleifer gilt.
Dieser Erfolg bringt ihm auch die Nomination zum «Schweizer Sportler des Jahres» an den Sports Awards 2019 ein, die am 15. Dezember verliehen werden. «Das freut und ehrt mich unglaublich. Besonders, weil das Schwimmen in der Schweiz eine Randsportart ist.» Grosse Chancen auf den Gewinn der Auszeichnung rechnet sich der Romand nicht aus. «Als ich gesehen habe, welche Sportler sonst zur Wahl stehen, wusste ich, dass ich keine Chance habe. Das ist ein kleiner Trost, weil ich eh nicht live dabei sein kann», sagt Desplanches, der am selben Wochenende an den französischen Meisterschaften teilnimmt.
So bescheiden diese Aussage, so selbstbewusst ist der 25-Jährige sonst. Von den körperlichen Voraussetzungen her nicht unbedingt prädestiniert, Spitzenschwimmer zu werden, und nach eigener Aussage nicht sonderlich talentiert, gehören das Selbstvertrauen und die mentale Härte zu seinen Stärken. Im Wettkampf, wenn es drauf ankommt, kann er noch einen Zacken zulegen. «Ich liebe den Wettkampfdruck. Die Anspannung, das Adrenalin – dafür lebe und schwimme ich!»
Diese Fähigkeit beeindruckt auch seine Freundin, die französische Spitzenschwimmerin Charlotte Bonnet, die seit 2015 mit dem Schweizer liiert ist und derselben Trainingsgruppe angehört. «Jérémy hat mich diesbezüglich viel gelehrt:
lockerer zu bleiben, an mich zu glauben und nicht alles so sehr zu hinterfragen», sagt die Athletin, die Einzel-Europameisterin und gar Olympiamedaillengewinnerin mit der Staffel ist. Er gibt das Lob zurück: «Mir hilft es sehr, mit ihr jemanden an der Seite zu haben, der das Gleiche durchmacht. Jemand anderes würde kaum verstehen, dass wir in der Freizeit höchstens mal was kochen und sonst einfach nur die Bettdecke hochziehen wollen.»
In den vergangenen Monaten und Wochen sei dieses Bedürfnis sogar noch grösser gewesen als sonst, erzählt Desplanches. Auf den bevorstehenden Olympiasommer hin hat der Trainer das Pensum und die Intensität nochmals hochgeschraubt. «Es ist wirklich sehr, sehr, sehr hart im Moment.» Anmerken lässt er sich das jedoch weder im Wettkampf noch im Training. Beim Weltcup in Berlin im Oktober wird er Zweiter. Und Coach Pellerin sagt: «Er war in all den Jahren noch kein einziges Mal schlecht drauf. Er kommt noch immer mit einer erfrischend kindlichen Neugier ins Training, das gefällt mir.»
Dieser Lebensstil bringt Desplanches grosse Erfolge: 2018 holt er an den Europameisterschaften in Glasgow in seiner Paradedisziplin über 200 Meter Lagen – je 50 Meter Delfin, Rücken, Brust und Freistil – Gold. Es ist die erste Schweizer EM-Medaille seit zehn Jahren. Vergangenen Sommer toppt er dieses Resultat: An der WM in Südkorea gewinnt er die Silbermedaille. Das ist zwölf Jahre nach Flavia Rigamontis Silber über 1500 Meter Freistil erstmals wieder WM-Edelmetall für die Schweiz in der Weltsportart Schwimmen.
Trotz Fokus und Drill hat Jérémy Desplanches die Lust und Freude am Schwimmen nicht verloren. Eine vielversprechende Kombination im Hinblick auf die Olympiasaison.
Sports Awards Sonntag, 15. Dezember, 20.05 Uhr auf SRF 1.