1956–2015
Wie alles begann
Er fliegt vom Internat, beendet mit Ach und Krach die Kanti und bricht ein Jus-Studium ab – die Karriere des Bergbuben aus dem bündnerischen Andiast beginnt gelinde gesagt holprig. Erst als Pierin Vincenz mit 26 Jahren an der HSG St. Gallen Wirtschaft studiert, erwacht sein Drang nach Macht und Geld. 1996 beginnt er bei der Raiffeisen Schweiz und wird 1999 deren CEO. Ab da lebt er nach dem Motto: «Schub geben!»
Daran hält sich Vincenz auch, als seine erste Frau kurz nach seiner Beförderung zum CEO an einer Hirnblutung stirbt. Plötzlich ist der aufstrebende Manager alleinerziehender Vater von sechsjährigen Zwillingsmädchen. Er holt sich psychologische Hilfe und macht sich zunutze, dass er als CEO selbst bestimmen kann, wann Sitzungen anfangen und aufhören. «So konnte ich den Kindern verlässlich sagen, wann ich heimkomme», sagte er einst zur Schweizer Illustrierten. Als Raiffeisen-CEO erreicht Vincenz Grosses: Er macht aus der kleinen Bauernbank die Nummer drei der Schweiz. In der Öffentlichkeit und bei Journalisten ist er beliebt. Er gilt als hemdsärmeliger Typ, der mit den Menschen spricht und immer einen träfen Spruch parat hat. So sagt er 2014 bei «Giacobbo/Müller»: «Das Image der Banker ist heute auf dem Niveau eines Komikers.»
30. September 2015
Der Rücktritt
Als Vincenz mit 59 Jahren als CEO zurücktritt, trifft ihn die SI zu einer Bootstour im Tessin. «30 Jahre hab ich nicht so viel gemacht – Schule, Ausbildung, Sport und viel gute Zeit mit Freunden verbracht –, dann habe ich 30 Jahre gearbeitet, und jetzt möchte ich 30 Jahre etwas Neues anpacken», sagt er und freut sich auf seine neue Aufgabe als Verwaltungsratspräsident bei der Helvetia Versicherung. Seine zweite Frau Nadja Ceregato, mit der er seit 2003 verheiratet ist, bleibt Chefjuristin bei Raiffeisen Schweiz.
27. Juli 2016
Der Stein kommt ins rollen
Der Finanzblog «Inside Paradeplatz» schreibt als Erster über Geldtransaktionen auf einem Konto der Zürcher Bank Julius Bär. Es geht um mögliche Zahlungen rund um einen Deal bei Aduno, wo Pierin Vincenz VR-Präsident war. Der Artikel wirft die Frage auf: Hat sich Vincenz persönlich bereichert, indem er privat in Firmen investierte, die dann zu einem deutlich höheren Preis an Raiffeisen oder Aduno verkauft wurden? In diesem Zusammenhang taucht erstmals auch der Name Beat Stocker auf. Der Ex-Aduno-CEO ist eng mit Vincenz befreundet und soll ebenfalls in die Transaktionen involviert sein.
29. Oktober 2017
Im Visier der Finma
Die Schlagzeilen über Pierin Vincenz haben Folgen. Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma) leitet gleich zwei Verfahren ein: eines gegen die Raiffeisen Schweiz, das zweite gegen Pierin Vincenz persönlich. Es geht um mögliche Interessenkonflikte bei Firmenzukäufen, die Vincenz in seiner Amtszeit getätigt haben soll, etwa beim Kauf der Beteiligungsgesellschaft Investnet. Der Ex-Banker lässt über seine Pressestelle verlauten: «Ich bin der Ansicht, potenzielle Interessenkonflikte mit der notwendigen Sorgfalt behandelt zu haben.» Doch es kommt noch dicker für ihn: Nach der Finma gibt auch Aduno bekannt, sie werde Geschäfte, die unter ihrem ehemaligen VR-Präsidenten getätigt wurden, durchleuchten.
27. Februar 2018
Der Krimi geht weiter
Neue Wendung im Fall Vincenz: Raiffeisen Schweiz und Aduno reichen Strafanzeige gegen den Ex-Banker ein! Daraufhin eröffnet die Zürcher Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung – gegen Pierin Vincenz und vier seiner Geschäftspartner, darunter Beat Stocker, Ex-Chef von Aduno. Bei Hausdurchsuchungen in den frühen Morgenstunden stellt die Staatsanwaltschaft «umfangreiches Material» sicher.
2. März 2018
Hinter Gittern
Vincenz und Stocker kommen in Untersuchungshaft. Was damals niemand ahnt: Die beiden werden über drei Monate im Gefängnis Limmattal in Dietikon ZH einsitzen. Und die ganze Schweiz rätselt: Hat sich der lange Zeit überaus respektierte Schweizer Banker, der sich gern als Bündner Bergbub verkaufte, wirklich kriminell verhalten?
11. April 2018
Interne Untersuchung
Raiffeisen Schweiz startet eine interne Untersuchung zum Fall Vincenz. Dafür setzt sie den Schweizer Manager und Wirtschaftsprofessor Bruno Gehrig als unabhängigen Untersucher ein. Er soll prüfen, ob die rund 100 Zukäufe der Raiffeisen Schweiz in der Ära Pierin Vincenz korrekt abliefen.
12. Juni 2018
Bedingt frei
Nach 106 Tagen ist Vincenz wieder auf freiem Fuss! Aber die Ermittlungen gegen ihn laufen weiter. «Was ich in den letzten Wochen erlebt habe, wünsche ich niemandem», lässt er ausrichten. Gemeinsam mit seiner Frau Nadja Ceregato verreist er zur Erholung an einen geheimen Ort.
14. Juni 2018
Verkehrte Hierarchie
Jetzt ist es amtlich: Laut dem Urteil der Finma hat der Raiffeisen-VR die Aufgabe als Leitungsorgan «ungenügend wahrgenommen». Beschrieben wird eine Bank, in welcher der ehemalige Chef das absolute Sagen hatte und seinen Drang nach Macht und Geld fast ungehindert ausleben konnte.
22. Januar 2019
300 Millionen Schaden
Es gebe «keine klaren und eindeutigen Hinweise» für ein strafrechtlich relevantes Handeln von Pierin Vincenz – zu diesem Ergebnis kommt der unabhängige Untersuchungsbericht von Bruno Gehrig. Kurz darauf beziffert Raiffeisen Schweiz erstmals den Schaden, der ihr durch die Deals von Vincenz entstanden ist: 300 Millionen Franken! Vincenz wird betrieben. Die Untersuchung der Zürcher Staatsanwalt läuft derweil weiter.
15. Mai 2019
Jetzt auch Ceregato
Die Zürcher Staatsanwaltschaft ermittelt auch gegen Nadja Ceregato, Raiffeisen-Chefjuristin und Ehefrau von Vincenz. Der Verdacht: «Verletzung der Geschäftsgeheimnisse». Im November 2021 wird sie per Strafbefehl verurteilt: Sie hat ein internes Strategiepapier unerlaubterweise weitergegeben. Ceregato und Vincenz lassen sich 2021 scheiden.
2. November 2020
Die Anklage
Darauf hat die Finanzwelt zwei Jahre gewartet. Die Staatsanwaltschaft Zürich erhebt Anklage gegen Pierin Vincenz und Beat Stocker sowie fünf weitere Personen. Die Vorwürfe gegen die zwei Hauptbeschuldigten: gewerbsmässiger Betrug, Veruntreuung, Urkundenfälschung und passive Bestechung zum Nachteil von Aduno und Raiffeisen Schweiz.
In der 356 Seiten dicken, nicht öffentlichen Anklageschrift geht es auch um Spesen, weiss «Inside Paradeplatz». Als CEO hat Vincenz seinem Arbeitgeber rund 560 000 Franken verrechnet. Knapp die Hälfte davon für Besuche in Cabarets, Stripklubs und Kontaktbars. Seine Spesen rechnete er über eine eigene Kostenstelle ab. Diese lief über seinen Privatanwalt Eugen Mätzler, der ab 2011 sämtliche Löhne, Boni, Spesen des Raiffeisen-Topkaders abwickelte.
Besonderes Aufsehen erregt eine Rechnung von 3778 Franken für die Nacht vom 11. auf den 12. Juni 2014 im Zürcher Nobelhotel Hyatt. Hier kam es offenbar zu einem wüsten Streit zwischen Vincenz und einer Escortdame, bei dem das Hotelzimmer stark demoliert wurde.
26. September 2021
Millionär ohne Geld
Über 40 Millionen Franken soll Vincenz als langjähriger Raiffeisen-Chef verdient haben. Ein paar Monate vor Prozessbeginn zeigen jedoch neue Dokumente aus dem Strafverfahren, dass der Multimillionär immer wieder Liquiditätsprobleme hatte. So gewährte ihm etwa der bekannte Unternehmer Peter Spuhler 2019 einen Kredit von 6,5 Millionen Franken. Die stattliche Summe diente zur Ablösung einer Hypothek, um seine Villa in Teufen AR zu finanzieren.
25. Januar 2022
Der Prozess
Mit der Causa Vincenz startet der grösste Schweizer Wirtschaftsprozess des letzten Jahrzehnts. Neben Pierin Vincenz und seinem engsten Mitarbeiter Beat Stocker müssen fünf weitere Angeklagte dem Zürcher Bezirksgericht Rede und Antwort stehen.
Abertausende von E-Mails, Chat- Nachrichten, Banktransaktionen, Rechnungen, Protokolle und Verträge hat die Staatsanwaltschaft durchforstet. Nun fordert sie sechs Jahre Gefängnis für Vincenz. Zudem soll er neun Millionen zurückzahlen. Die Schweiz darf gespannt sein, wie Vincenz die nächsten 30 Jahre verbringen wird. Es gilt die Unschuldsvermutung.