Diese Freude! Das Herz zu spüren, zu atmen, sich zu bewegen – es fühlte sich so gut an. So lebendig. Jolanda Neff erlebte diesen puren Genuss Ende Januar 2020. Damals sass sie zum ersten Mal wieder auf dem Velo, nachdem Wochen zuvor ihre Lunge bei einem Sturz halb kollabiert war, die Milz kaputt, die Rippen gebrochen. Seither trägt sie dieses Glücksgefühl in sich, geniesst jede Ausfahrt, jeden Trail, lebt bewusster. «Für mich muss es eine Geschichte der Freude sein, nicht des Leidens», sagt sie in Tokio in ihrer eindringlichen, überschäumenden Art. Sie meint damit ihre Karriere, ihr Leben und vor allem, wie sie es schafft, sich von Rückschlägen nicht zermürben zu lassen.
Die Turner waren 1936 die Letzten
Wie schön ist es, wenn diese Freude am Velofahren im Olympiasieg gipfelt? Wenn zwei Freundinnen das Podest komplettieren? Einen Olympia-Dreifachsieg schaffen ab und zu grosse Sportnationen wie die USA, doch die Schweiz? Da waren drei Turner 1936 die Letzten – nicht mal den Skifahrern ist das zu ihren besten Zeiten gelungen. Und hier in Tokio sind es nicht einfach drei Frauen, die zufällig dasselbe Trikot tragen. «Wir harmonieren und respektieren, unterstützen und helfen einander», schwärmt Neff. Vor allem mit Bronzemedaillen-Gewinnerin Indergand hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt; seit sie zehn Jahre alt waren, stehen die beiden an jeder Startlinie gemeinsam, verbrachten in der Spitzensport-RS 18 Wochen lang 24 Stunden miteinander, reisen um die Welt und teilen Siege und Niederlagen. «Es gibt nie Streit, es ist einfach nur lässig.»
«Mit Luca könnte es nicht schöner sein. Ich fühle mich aufgehoben»
Jolanda Neff
Sina Frei ist mit 24 etwas jünger, doch auch sie ist Teil der verschworenen Gemeinschaft geworden. Seit ein paar Jahren hat Swiss Cycling die Unterstützung für den Frauenradsport hochgefahren, es gibt zahlreiche Zusammenzüge, auch solche ausschliesslich fürs Bike-Techniktraining. Und mit Edi Telser seit acht Jahren einen disziplinenübergreifenden Nationaltrainer, der es versteht, auf jede Athletin einzugehen und in der Vorbereitung kein Detail ausser Acht zu lassen. Nein, es ist kein Zufall, dass drei Schweizerinnen das Podest teilen. Dass tags darauf auch noch Marlen Reusser im Zeitfahren mit Silber brilliert.
Wer, wenn nicht wir?
Wann, wenn nicht jetzt?
Jeanne d’Arcs Schlachtruf sei hier erwähnt. Die französische Freiheitskämpferin ist Jolanda Neffs historische Lieblingsfigur. Die St. Gallerin hat Geschichte studiert und packt alles mit vollem Einsatz an. Sie sprudelt vor Ideen und Motivation. Die erst fünfte Schweizer Sommer-Olympiasiegerin wächst in einer supersportlichen Familie in Thal SG am Bodensee auf, Vater Markus ist seit je ihr Trainer. Mit nur 21 Jahren gewinnt Neff zum ersten Mal den Gesamtweltcup. Es folgen zwei weitere, zudem der WM-Titel 2017.
Doch statt zur Dominatorin zu werden, wird Neff immer wieder zurückgeworfen. Durch einen Schlüsselbeinbruch etwa, eine Schulterverletzung, einen Teamwechsel, nach dem sie sich nicht mehr wohlfühlt. Und dann vor Weihnachten 2019 mit dem schrecklichen Sturz in der Heimat ihres Freundes Luca Shaw in North Carolina, USA. Ein Ast bohrt sich in ihre Mitte, sie verliert viel Blut, muss wochenlang liegen. Weiss nicht, ob sie nochmals ihre alte Leistungsfähigkeit erreicht. Die Ärzte sprechen von einem Wunder, dass sich ihre Milz wieder erholt hat.
Gemeinsam Biken und voneinander lernen
Die Corona-Krise hilft Neff, ohne Stress gesund zu werden. Und just als sie sich im Juni 2021 wieder nahe an der Spitze fühlt, bricht sie sich die Hand. Sechs Wochen lang darf sie nicht aufs Bike. Erst jetzt wieder in Tokio. Und gleich: Olympiagold! «Der Erfolg ist so viel süsser, wenn man lange dafür gekämpft hat.» Grosser Anteil daran habe Freund Luca, einer der besten Downhill-Biker der Welt. Seit drei Jahren sind sie zusammen, «es könnte nicht schöner sein, ich fühle mich so gut aufgehoben und unterstützt». Auch wenn die Bike-Disziplinen kaum vergleichbar sind, profitiert sie von Lucas technischen Fähigkeiten. «Ich geniesse es einfach, unsere Passion mit ihm leben zu können.»
«Es ist sehr speziell, das Podest mit Schweizerinnen zu teilen»
Sina Frei
Gemeinsam Sport treiben – das stand auch bei Sina Frei und ihrer Familie hoch im Kurs. Sie spielte Fussball und tanzte Ballett und Jazz, doch als dann der Bruder mit dem Vater in die Bike-Ferien nach Spanien statt wie üblich ins Klöntal durfte, stieg Sina eben aufs Velo um – und blieb. Das grosse Plus der 1,51 Meter kleinen Bikerin: ihr starker Wille, ihre Leidensfähigkeit. Wollte sie früher alles mit der Brechstange erzwingen, fährt sie heute auch mit Köpfchen. Die Zürcherin aus Uetikon am See hat in den Nachwuchsdisziplinen restlos alles abgeräumt. Dass ihr nun der Schritt aufs Olympiapodest bereits im zweiten Jahr bei der Elite gelingt – «das ist unfassbar. Ich bin überglücklich.» So sehr, dass die sonst pragmatisch und gefasst wirkende 24-Jährige gar Tränen in den Augen hat.
Gemeinsam mit Linda Indergand hat sie die Konkurrenz in Tokio in Schach gehalten, die beiden haben einander auf der Strecke gepusht. «Unser Zusammenhalt macht uns stärker», findet Indergand, 28. Auch die Urnerin aus Silenen hat ihren Vater als Trainer. Sepp – der ist früher gegen Jolanda Neffs Papa Rennen gefahren. Bruder Reto ist ebenfalls Profi, und Indergand, die seit dieser Saison in ihrem neuen Team aufblüht und mit dem «perfekten Rennen» in Japan schwierige Jahre hinter sich lässt, betont auch die optimale Vorbereitung, die Analyse der Strecke des Trainerteams – womit wir wieder bei Edi Telser wären.
«Hätte das am Morgen jemand gesagt, hätte ich geantwortet: Träum weiter!»
Linda Indergand
Eine aus dem entfesselten Veloteam will dem Trainer aus Dankbarkeit gar ihre Silbermedaille schenken: Zeitfahr-Spezialistin Marlen Reusser. Nicht weil ihr das Edelmetall nichts bedeutet. Aber Reusser ist tatsächlich die Einzige, für die mit Tokio kein Kindheitstraum in Erfüllung geht. «In meinem Leben passiert ständig etwas Spezielles», erklärt die 29-Jährige. «Es geht so: Boom, boom, boom.»
«Ich lasse das Leben lieber passieren»
Auf einem Bauernhof in Hindelbank BE aufgewachsen, engagiert sie sich früh in der Politik bei den Jungen Grünen, wird wegen ihres Talents mit der Geige speziell gefördert. Sie liebt den Laufsport, entdeckt mit 17 das Velo, studiert Medizin und gibt ihre Stelle als Assistenzärztin vor zwei Jahren für den Radsport auf. Pläne? Bitte nicht. «Ich lasse das Leben lieber passieren.»
Dass sie immer einen etwas anderen Weg geht, zeigt sich auch in Tokio: Während Medaillengewinner oft kaum einen Moment für sich haben, fährt Reusser allein mit dem Velo zurück ins Hotel und erwischt «einige Umwege». Es dürften die einzigen ruhigen Minuten in diesen verrückten Schweizer Velotagen gewesen sein.