«Beim ersten Mal», sagt Jonny Fischer, «habe ich alles verloren, was ich kannte.» Er, Jonathan, ist 15 Jahre alt, als er vor der versammelten Glaubensgemeinschaft der Eltern seinen Austritt bekannt gibt. Dem Vater, Künstler, manisch-depressiv, ist keine Sekte radikal genug, sodass er seine eigene gründet. Jonathan und seine vier Geschwister wachsen mit strengen Regeln auf.
Als Teenager will er wie alle anderen fernsehen, Musik hören, in den Ausgang statt seinen Tagesablauf nach Gottesdiensten zu richten. Seine Familie reagiert auf den Austritt gar nicht. Jonathan wird fortan nicht beachtet. Die Erfahrung, dass den Eltern der Glaube wichtiger ist als er, prägt ihn nachhaltig. «Heute bin ich verblüfft darüber. Es gibt doch kaum etwas Unchristlicheres, als den eigenen Sohn zu ignorieren.»
Dass sein Perfektionismus, sein fast schon zwanghafter Drang zu gefallen eine Folge der elterlichen Zurückweisung ist, merkt Jonny Fischer erst viel später. Die wichtigsten Beziehungen in seinem Leben sind deshalb jahrelang belastet: die zu seinem Mann Michi Angehrn, 32, und jene zu seinem Divertimento-Partner Manu Burkart, 44. In beiden Beziehungen knallt es immer wieder heftigst. Regelmässig ist da dieses Gefühl, so viel zu geben und so wenig zurückzubekommen. Sich selbst fast zu verlieren, führt beinahe zur Trennung von Michi. Die Vorstellung, Manu bekomme trotz weniger Einsatz mehr Applaus, mehr Fanliebe, mehr Social-Media-Follower, führt fast zur Trennung von Divertimento. Aber alle raufen sich stets wieder zusammen.
Das zweite Mal, als Jonny Fischer sich offen in die Karten schauen lässt, «habe ich nur gewonnen», sagt er. Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit sind nicht die grossen Themen im Elternhaus des kleinen Jonathan. Dass Männer auch Männer lieben können, existiert im religiösen Umfeld nicht. In seiner Jugend haben all seine Freunde Freundinnen. Dass er am Lehrerseminar Zug zu seinem besten Freund auch eine körperliche Beziehung pflegt, hält er für ein Ausprobieren, etwas, das alle mal machen. Auch dann noch, als er seine Eifersucht auf dessen Freundin spürt. Und ahnt, dass er für ihn mehr Gefühle hat als für seine eigene Freundin. Erst als diese ihn mit ihrem Verdacht konfrontiert, er stehe mehr auf Männer als auf sie, geht Jonny ein Licht auf. Und er macht Nägel mit Köpfen. Zwei Wochen nach der Trennung von seiner Freundin outet er sich in einem Rundbrief an alle, die er kennt. «Eine unglaubliche Erleichterung.»
Bis er sich traut, seine Homosexualität auch offen auf der Bühne zu thematisieren, dauert es allerdings noch eine ganze Weile. Nicht zuletzt deswegen, weil ihm Erfahrungen mit Homophobie nicht erspart bleiben. Ein Freund wird auf offener Strasse angegriffen, und als Jonny und Michi ihre Verlobung bekannt geben, erhalten sie Morddrohungen. Trotzdem entschliessen sich Jonny und Manu irgendwann, das Thema auch in ihr Programm aufzunehmen. «Seither gehe auch ich relaxter damit um», sagt Jonny Fischer.
Der dritte Seelenstrip ist der umfassendste. «Ob ich damit gewinne oder verliere, wird sich zeigen. Aber es ist gar nicht wichtig.» Es gehe in seiner Biografie nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, «diesen schweren Rucksack abzulegen». Zum Beispiel seinen inzwischen verstorbenen Vater nicht mehr als «Grund für alles, was in meinem Leben schieflief», zu sehen. Sondern als das, was er war: ein schwer kranker Mensch, religiös verblendet, der seinem Sohn jede Menge künstlerisches Talent mit auf den Weg gab. «Dafür bin ich heute dankbar.»
Er habe bereits vor fünf Jahren mit dem Gedanken gespielt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, erzählt Jonny Fischer. «Ich habe angefangen und gemerkt, dass ich anfing auszuweichen, wenns wehtat. Als dann die Journalistin Angela Lembo-Achtnich mit der Idee auf ihn zukommt, ergreift Jonny die Chance: «Jetzt oder nie.»
Alle Menschen, die in dem Buch vorkommen, haben es vor der Veröffentlichung gelesen. «Am schmerzhaftesten war es für meine Mutter. Sie hat vieles nicht gewusst, nicht mitbekommen und natürlich auch anders wahrgenommen als ich.» Das Verhältnis ist heute respektvoll. «Sie wäre auch an die Vernissage gekommen, wäre sie körperlich dazu in der Lage gewesen. Das freut mich sehr.» Jonnys Mutter hat Krebs im Endstadium. «Und ich denke, wir könnens jetzt auch gut sein lassen, sie und ich.»
Als Manu Burkart das Buch liest, schickt er Jonny alle 20 Minuten eine Sprachnachricht, oft mit tränenerstickter Stimme. Manu kennt die Geschichte von Jonnys Kindheit. «Aber wir wären beide nicht auf die Idee gekommen, unser Verhältnis in Relation zu dieser zu sehen», sagt Jonny. Wie für ihn selbst haben sich auch für Manu viele Dinge geklärt. «Das hat unsere Beziehung nachhaltig verändert.» Dasselbe gilt für seinen Mann Michi. «Er wusste vieles nicht. Auch er kann sich nun ein besseres Bild davon machen, warum ich in gewissen Situationen so heftig reagiert habe.» Seine «Beichte» tue auch seiner Ehe gut.
Bleibt noch das Verhältnis von Jonny zu Jonathan. «Ich kann meine Vergangenheit nicht ausradieren. Aber ich kann sie akzeptieren und nach vorne schauen.» Was Jonny inzwischen weiss: Erfolg, Applaus, Geld machen nicht glücklich. «Glück ist, wenn ich mich am Morgen selbst gern habe. Und am Abend auch noch.»