Karl’s kühne Gassenschau ist ein Spektakel. Auch wenns um Zahlen geht: Vor 40 Jahren gegründet, haben bis heute über drei Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer die 22 Produktionen der Schweizer Variété-Theatergruppe gesehen. Auch die neue Show «Reception», die ab dieser Woche bis zum Juni 2025 aufgeführt wird, spart nicht mit Superlativen. Das Gelände der Kühnen auf der Industriebrache Niderfeld in Dietikon ZH ist 25 000 Quadratmeter gross, der künstliche See – das Kernstück der Vorstellung – 1500 Quadratmeter.
Zum Gespräch über das neue Spektakel von Karl’s kühner Gassenschau treffen wir uns mit den Gründungsmitgliedern Brigitt Maag (63) und Paul Weilenmann (65) für die es die letzte Show sein wird. Und mit den neuen künstlerischen Leitern Matthias Schoch (38) und Max Merker (47).
Wovon handelt das Stück «Reception»?
Brigitt Maag: Es geht ums Abschiednehmen. Das Stück spielt am sogenannt schönsten Tag im Leben – an einer Hochzeit. Dabei geht es um den Abschied des Vaters von seiner Tochter, der Braut. Er will ihr das schönste Hochzeitsfest schenken, das es überhaupt gibt. Doch dann schlägt das Schicksal zu. Wir müssen immer ein Thema finden, das uns berührt. Nach den letzten Produktionen über Umweltprobleme und Globalisierung wollten wir nun wieder etwas Persönliches zum Thema machen.
Wie ist das Stück entstanden?
Paul Weilenmann: Die Idee hatte Brigitt. Sie hat etwa zwölf Zeilen aufgeschrieben (lacht).
Maag: Ja, ich bin die Autorin, die nichts schreibt … (Lacht.)
Weilenmann: Danach besprechen wir den Rest. Und fragen uns: Ist diese
Idee etwas für uns? Sehen wir Bilder? Dann involvieren wir einen grösseren Kreis, bei dem zwingend auch die Technik mit dabei sein muss. Das Bühnenbild ist extrem wichtig. Findet man ein spannendes Bühnenbild, das die Geschichte gut erzählen kann? Bei «Reception» musste man mich nicht lange überzeugen.
Maag: Nein, bei diesem Stück nicht.
Weilenmann: Bei anderen schon … (Beide lachen.) Wir sind wie eine Zwiebel. Im kreativen Bereich sind wir am Anfang zu zweit, dann kommen fünf oder sechs Leute dazu, dann die Bürocrew mit etwa acht Personen, dann die Technik mit 50 Menschen. Am Schluss sind etwa 120 Personen auf der Lohnliste.
Das heisst, Sie beginnen relativ schnell mit den Proben.
Max Merker: Ja. Treffen wir uns zum ersten Mal mit dem Cast und improvisieren, was gute Situationen sein könnten, dann will die Technik bereits wissen, wie viele Leute beispielsweise mit dem Boot untergehen. Wenn wir dann an der Story wild rumdoktern und wieder alles auf den Kopf stellen, dann kriegen sie die Krise. Dieses Mal haben wir versucht, einen groben Ablauf zu stricken, und auch ein Skript geschrieben.
Weilenmann: Das ist das erste Mal seit 40 Jahren, dass wir ein 60-Seiten-Skript verfasst haben.
Maag (schmunzelnd): Es nützt zwar nicht viel, aber es gibt ein gutes Gefühl.
«Reception» ist das zweite Programm nach «Akua»(2002–2005), das im Wasser spielt. Warum erneut ein Wasserspektakel?
Maag: Weil wir nicht mehr mitspielen (lacht).
Weilenmann: Nein, Brigitt und ich fanden, wir gehen hier mit Pomp raus. Wir geben nochmals alles. Ein Wasserstück ist eine wahnsinnige Herausforderung. Es ist einfach gestört. Nach «Akua» dachten wir, das machen wir nie mehr. Aber: Wir haben die Erfahrung. Und ein besseres Technikteam. Es war schon immer unsere Devise, dass wir voll auf Risiko gehen.
Was war bei «Reception» die grösste Herausforderung?
Matthias Schoch: Technisch gesehen ist die Show schon einmalig. Zum Theaterstück, das eh schon sehr aufwendig ist, kommt noch die zusätzliche Ebene des Wassers hinzu. Man schliesst nicht einfach den Vorhang, wenn man Schauspielende nicht mehr sehen will. Die sind dann nämlich unter Wasser. Springt nun jemand eine Szene später ins Wasser, muss man wissen, dass niemand dort unten ist. Es gibt mehrere Taucher. Und alle Schauspielerinnen und Schauspieler mussten das Tauchbrevet machen. Es ist eine Choreografie, die für die Zuschauenden unsichtbar ist.
Merker: Ich habe nochmals viel über Physik gelernt. Über den Auftrieb und das Untergehen. Wenn ein Objekt mit Wasser vollläuft, dann passiert dies erst langsam, und plötzlich geht es schnell. Das Wasser bringt neue Naturgesetze in die Show, die ich nicht auf dem Schirm hatte.
Was müssen die Artistinnen und Artisten mitbringen, um bei Karl’s kühner Gassenschau mitmachen zu können?
Schoch: Alles. Man muss Schauspieler sein, singen können, tauchen und vom Turm springen. Natürlich können nicht alle alles, aber nach diesen Kriterien haben wir ausgewählt. Gleichzeitig müssen sie ein gutes Ensemble bilden und Lust haben, 80 Vorstellungen gemeinsam zu spielen.
Merker: Ich bin zum ersten Mal mit dabei, und ich würde sagen, man muss einfach ein Stück weit verrückt sein. Man denke nur an das Wetter in den vergangenen Wochen. Bei den ersten Bühnenproben musste das Team bei Dauerregen auf «Sommerhotel» und «Poolparty» machen und dabei «Beach Baby Bongo» singen. Ich war begeistert vom Team, wie es das durchgezogen hat: ewig im Wasser stehen bei dieser Kälte. Man muss es wirklich wollen, glaube ich.
Was kostet die Show überhaupt?
Weilenmann: Sechs Millionen Franken. 90 Prozent finanzieren wir über den Ticketverkauf.
Brigitt Maag und Paul Weilenmann, Sie sind von den vier Gründungsmitgliedern noch dabei, geben aber die künstlerische Leitung an Matthias Schoch und Max Merker ab. Und stehen das erste Mal nicht mehr auf der Bühne. Ein bisschen wehmütig?
Maag: Ich spiele wahnsinnig gern. Und ja, auch schampar gut. (Alle lachen.) Das wird mir sicher fehlen. Und: Es ist ein sehr artistisches Stück. Man muss sich bewegen können. Ich konnte es nie so gut wie Paul. Jetzt könnte ich nur noch eine Leiche spielen … (Lacht.)
Weilenmann: Noch bin ich nicht wehmütig. Aber ich werde es sicher noch. Nun möchte ich einfach einmal etwas anderes machen. Den Sommer geniessen. Mehr zu Hause sein; meine Kinder sind Teenager. Andere Theater besuchen. Oder einfach während der Show an der Bar sitzen.