Vor genau 100 Jahren starb Marcel Proust, der auf der Suche nach der verlorenen Zeit seine eigene Kindheit beschrieb wie noch niemand zuvor. 100 Jahre später verblüfft der Schweizer Kim de l’Horizon mit seiner Suche nach dem verlorenen Körper. Das Buch ist mehr als ein Buch: Es ist ein Ereignis. Es erzählt von der Suche nach dem Körper der eigenen Kindheit, der immer abwesend war und aus der Erinnerung gestrichen ist. Weil es diesen Körper nicht gab, nicht geben durfte. Das nun berichtet Erzähler Kim seiner Grossmutter, nachdem er endlich seinen Körper gefunden hat. Er ist nämlich ein «Es» geworden. Nicht Mann, nicht Frau. «Es».
Zunächst noch hat er sich mit neonfarbenen Schuhen in die Schwulenwelt geflüchtet, die Muskeln aufgepumpt, sein Ego aufgepumpt und sein Glied aufgepumpt – bis zur Erschöpfung, weil er darin nicht die wirkliche Erfüllung fand, wie jetzt, wo er im Hosenrock in die Vorstadt hinausschweift, die im Englischen auch «Aussenröcke» heissen. Dort «verschwestert» er mit dem rostigen Gitter, an das er sich klammert, während ihm ein Mann unter den Rock greift und ihn gleichsam in seinen eigenen Körper, in sein wahres Fleisch zurückstösst. Da wird die Sprache hart und rau, krass Porno. Und erinnert an Pasolinis Roman «Petrolio», wo sich auch ein Mann zur Frau macht in einer endlosen Orgie. Doch Kim de l’Horizon kann mehr: Er kann «d Meer». So heisst auf Berndeutsch die «Mutter», und die Grossmutter wird zur «Grossmeer». Er taucht ein in diese Flut der «Meer-Sprache» und lässt sich fliessen und treiben durch Kindheitserinnerungen an die Hände der Grossmutter, ihren Mund, ihre Fotzelschnitte und ihr Verschlingen und Würgen. Er würgt noch immer an der Kindheit und am Verschwinden der Grossmutter in der Demenz. Er will ihr «es» noch sagen, bevor sie ganz verschwindet, und schreibt für sie verzweifelt rasch den Roman.
Er ist zu jenem «Es» geworden, zu jenem verdrängten Begehren, das sie immer in leere «Trückli» steckte und auf der Kommode platzierte. Diese Leere wird nun zur Sprachfülle, zum wilden Ritt durch die Geschichte der Bäume und der Blutbuche: Die stand im Garten der Kindheit, schützend und brutal rot leuchtend zugleich. Als Kind zeichnete er sie ab, jetzt verwandelt Kim sie in den Roman selbst mit seinen tiefen Wurzeln und wilden Trieben: «Blutbuch», so der Titel.
Das fehlende «e» ist der Anfang des neu gefundenen «Es»: Die Weigerung, ein Mann zu werden oder eine Frau, da diese, zumindest in Bern, immer zur Sache wird – das Meitschi, das Grosi, das Anneli. Wenn man aber keine Sache werden will als Frau, geht man im «Sprachmeer» der eigenen «Meer» unter. Ausser man überbordet wie Kim de l’Horizon mit zeitgeistigen Worten wie «weggentrifihipstern», um im eigenen Sprachfluss anzukommen. Es schäumt auf Berndeutsch und im letzten Teil auf Englisch!
Der Sprachfluss verzweigt sich immer weiter, so wie der Körper aus den binären Bahnen ausbricht auf einen dritten Weg, hin zu einem «dritten Geschlecht», wie man es von den Surrealisten, von Virginia Woolf und anderen kennt: Aber diesmal wird das ganz im Jetzt erzielt, schonungslos und offen wie eine Wunde, die nur heilt, wenn man sie zeigt.
Dafür erhielt gerade Annie Ernaux, 82, den Literatur-Nobelpreis, und Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis. Wer das nicht aus billiger voyeuristischer Lust liest, wird in sich selbst ähnliche Erfahrungen und Erinnerungen entdecken, wird fühlen, wie es war, als Kind in einen Körper hineinzuwachsen, der sich dem Normalen fügen musste: «Bisch en Bueb oder es Meitschi?» Man blättert dann nicht nur im Buch, sondern im eigenen Ich. In diesem Sinn werden wir alle den Roman von Kim de l’Horizon selber zu Ende schreiben. 100 Jahre nachdem Proust seine Liebe zu Männern noch als Liebe zur jungen Mädchenblüte «Albertine» tarnen musste, lockt Kim de l’Horizon die Menschen in eine Gegenwart des «Es», die noch viel Zukunft hat.