Mit wachsamen Augen sitzen die vierjährigen Zwillingsschwestern Li und Yen da – zuoberst auf zwei Baumkronen in der Panda- Anlage des Walter Zoos in Gossau SG. Die beiden Kleinen Pandas beobachten, wie der zuständige Revierleiter Dominic Kast (34) ein Bündel frisch geschnittener Bambusäste herbeiträgt. Kaum hat sich der Revierleiter aus der Aussenanlage zurückgezogen, trippeln Li und Yen hurtig und flink hinunter – mit ihren sichelförmigen und rückziehbaren Krallen an den Tatzen können sie auch kopfvoran von Bäumen klettern.
Nun hocken die Publikumslieblinge des Walter Zoos in aller Seelenruhe da, ziehen mit ihrem verlängerten Mittelfussknochen, der ihnen als Daumen dient, ein Bambusästchen nach dem anderen zu ihren Mäulern – und geniessen ihren Znüni. 95 Prozent ihres täglichen Futters besteht aus Bambusblättern: 600 Gramm sind es pro Tag, verteilt auf 15 Fresszeiten an verschiedenen Futterplätzen – dazwischen ist Körperpflege und Schlafen angesagt. «Jö!», ruft ein Bub, der mit seinen Eltern den zwei Tieren von einer Besucherplattform aus zuschaut. «Sind das nicht die zwei Kleinen Pandas, die vor Kurzem ausgebüxt sind?»
Wo sind Li und Yen?
Dominic Kast schmunzelt, während er im Innenraum der Panda-Anlage aus einem Ei und einer Handvoll Spezialfutter die zwei Portionen Zusatznahrung zubereitet, die die Raubtiere heute noch bekommen werden. «Das waren aufregende Stunden! Für unsere Tierpfleger und bestimmt auch für Li und Yen.» Seit 2022 leben die beiden hier, vorher waren sie im Opel-Zoo bei Frankfurt am Main (D), wo sie zur Welt gekommen sind. Damals waren Li und Yen noch an Gemüse und Früchte gewöhnt. Der Walter Zoo stellte auf ihre ursprüngliche Nahrungsgrundlage um – Bambus.
Der langjährige Revierleiter erinnert sich gut an den Tag Anfang Jahr: Über Nacht hatte es 30 Zentimeter Neuschnee gegeben. Auf der morgendlichen Kontrollrunde bemerkt die zuständige Tierpflegerin, dass Li und Yen nicht da sind, weder im Innenraum noch in der Aussenanlage. Sie alarmiert den Tagesverantwortlichen und Revierleiter Kast. Rasch macht sich eine Gruppe aus Tierpflegern und der Tierarztassistentin des Zoos auf die Suche, ausgerüstet mit Wärmebildkameras. Auch ein Team von K-9 Tiersuche Schweiz ist aufgeboten. Aufgrund der Spuren im Schnee steht bald fest: Li und Yen sind über einen von der Schneelast umgeknickten Ast über die Mauer ihrer Anlage geklettert und auf Erkundungstour gegangen.
Kleine Pandas sind neugierig und können sehr kreativ sein, wenn es um einen Versuch geht, Bambusstauden ausserhalb ihres Reviers zu finden. Nur 50 Meter von der Anlage entfernt stösst der Suchtrupp schon bald auf Li, die vorsichtigere der beiden Schwestern: Sie liegt im Schnee – und schläft! Ursprünglicher Lebensraum der Kleinen Pandas sind die hohen Gebirge Zentralasiens – die Tiere sind sich Schnee und eisige Temperaturen gewohnt, ihre behaarten Fusssohlen schützen vor Kälte. Revierleiter Rast bringt Li zurück, seine Kollegen verfolgen die Spuren von Yen – diese führen ein paar 100 Meter weiter in ein Waldstück.
Sprünge von Baum zu Baum
Ab und zu verliert sich die Spur: Yen ist auf Bäume geklettert und über Äste von Baum zu Baum gesprungen, bis 1,5 Meter weit. Der Suchtrupp trifft einen Fussgänger. Dieser berichtet, er habe vor ein paar Minuten ein klei- nes, ihm unbekanntes Tier gesehen. Kurz darauf sichtet Dominic Kast die Ausreisserin. Mit einem Kescher in der Hand pirscht er sich an Yen heran. Sie rennt weg, Kast spurtet ihr nach. Ein paar Meter weiter gelingt es ihm, Yen mit dem Kescher zu fangen. Das Tier kennt den Revierleiter, ruhig und erschöpft lässt es sich im Netz des Keschers in die Transportbox legen. Die zwei Pandas sind bereits in der Nacht ausgebüxt, mutmasst der Revierleiter. «So richtig wohl werden sich die beiden nicht gefühlt haben auf ihrer Tour. Vor allem Yen versuchte wohl, zurückzukommen, fand aber den Weg nicht.» Kleine Pandas sind eher bewegungsarme Tiere.
Im Zoo werden Li und Yen mit einem Inhalationsgerät narkotisiert und von der Zoo-Tierärztin gründlich untersucht. Sie sind weder verletzt noch unterkühlt, mithin gesund. Die zwei folgenden Tage behalten die Tierpfleger die Zwillinge im Innenbereich der Anlage. Dort erholen sich diese von ihrem Abenteuer und haben wieder einen normalen Tagesablauf. «Die Schwestern wirkten überhaupt nicht traumatisiert», erinnert sich Revierleiter Dominic Kast. «Sie hatten sofort wieder Kohldampf auf Bambus.»
Rote Pandas So werden die Kleinen Pandas auch genannt – wegen ihres rot-weiss-schwarzen Fells. Sie sind Raubtiere, gehören nicht zur Familie der Bären.
Grosse Pandas sind nicht mit den Kleinen verwandt. Die Grossen sind zwar bekannter und nach dem Kleinen Panda benannt; sie gehören aber zu den Bären.
Das Wort Panda stammt aus der Sprache Nepals – es heisst übersetzt: Bambusfresser.
Li und Yen bringen je rund 4,5 Kilo auf die Waage.
Nur 10'000 Kleine Pandas leben weltweit noch in freier Wildbahn. Ein Programm widmet sich der globalen Erhaltungszucht. Dazu gehören auch Li und Yen.