Tausende Mails, Hunderte Interviews, Fotoshootings, Demos, Podien, Auftritte in der «Arena», Proteste mit dem Eisbrecher auf hoher See – und natürlich die Gerichtstermine! Ob sie sich ihren Lebensabend so vorgestellt hatten? «Der Ruhestand muss halt warten», sagt Anne Mahrer (75). «Ich habe mir nie Gedanken über die Pension gemacht», ergänzt Rosmarie Wydler-Wälti (74). «Aber für mich ist es sicher sinnvoller als Jassen.»
Die zwei Frauen mit grauen Haaren und wachen Augen sind Co-Präsidentinnen des Vereins Klima-Seniorinnen und verklagen die Schweizer Regierung. Und wie sich herausstellt, ist das schon fast ein Vollzeitjob.
Revolution im Rentenalter
Bei ihrem Treffen in Basel gibt es eine herzliche Umarmung, bevor der Ehemann von Rosmarie Wydler-Wälti die Kaffeebestellung aufnimmt. «Dieses Haus ist meine Klimasünde», sagt Rosmarie Wydler-Wälti etwas reumütig. Längst sind ihre vier Kinder aus dem Siebenzimmerhaus mit Garten im Wohnquartier Neubad ausgezogen.
Die heute achtfache Grossmutter arbeitete viele Jahre als Kindergärtnerin und Elternberaterin. Sie bezeichnet sich als Alt-68erin und demonstrierte gegen AKWs. Die Genferin Anne Mahrer war bis 2015 Nationalrätin der Grünen und hat eine 19-jährige Enkelin.
Nun kämpfen die Rentnerinnen zusammen für ihr grösstes Anliegen: Eigentlich nichts Geringeres, als die Welt zu retten. Dazu verklagen sie sogar die Eidgenossenschaft. Der Vorwurf: Die Schweiz tue zu wenig, um Seniorinnen vor den Folgen der Klimakatastrophe zu schützen. Denn seit dem Hitzesommer 2003 ist bekannt, dass Frauen ab 75 Jahren besonders von den Folgen der Hitze betroffen sind – etwa weil sie weniger schwitzen können – und häufiger zu den Hitzetoten zählen.
Aus der Klage wurde eine Bewegung. Heute sind über 2500 Frauen mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren Mitglied bei den Klima-Seniorinnen. Unterstützt werden sie von Greenpeace. Die Umweltorganisation führt das Sekretariat und sorgt für das notwendige Geld, denn Klagen ist nicht billig. Mehr als eine Million Franken kostete der Gang durch die Instanzen bisher.
In der Schweiz wurde die Klimaklage vom Umweltdepartement 2016 zurückgewiesen. 2018 lehnte das Bundesverwaltungsgericht die Klage ab, 2020 auch das Bundesgericht. Diese Rückschläge brachten den Seniorinnen viel Häme ein. «Man hat uns lange nicht ernst genommen», sagt Wydler-Wälti. «Aber wir haben trotzdem immer weitergekämpft», ergänzt Mahrer.
Im Jahr 2020 ziehen sie mit ihrer Klage vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die höchste juristische Instanz in Europa. Die Klage gegen die Schweiz wird nun in Strassburg (F) von der Grossen Kammer behandelt – und das sagt einiges: Das höchste Gremium des Gerichts behandelt nur die Fälle, die für die Rechtsprechung in Europa oberste Priorität haben. Die belächelten Klima-Grosis werden mit einem Schlag berühmt. Würde die Schweiz verurteilt, so wäre das Land von Strassburg aufgefordert, seine Klimapolitik zu verschärfen. Das Urteil fällen die 17 Richterinnen und Richter am 9. April. «Seit ich das Datum kenne, schlafe ich etwas weniger gut», sagt Wydler-Wälti.
Im Supermarkt oder nach der Podiumsdiskussion: Immer wieder müssen sich Anne Mahrer und Rosmarie Wydler-Wälti anhören, sie seien doch egoistisch, dass sie für sich und nicht etwa für die Jungen klagen. Dass sie ja sowieso bald sterben würden. Dabei ergäbe eine Klage für die Jugend juristisch gar keinen Sinn. Wer vors Strassburger Gericht geht, muss geltend machen können, von den beklagten Umständen direkt betroffen zu sein. Rosmarie Wydler-Wälti stellt aber klar: «Wenn wir gewinnen, gewinnen alle.»
Grossmütter mit Gegenwind
Dennoch wird der Widerstand immer stärker, den sie zu spüren bekommen. «Es sind vor allem ältere Männer, die auf Social Media schreiben, wir alten Omas sollen doch ruhig sein und zu den Enkelkindern schauen. Grauenhaft!» Einer hat ihnen sogar mitge-teilt, dass man solche wie sie früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte. «So wie Hexen halt», sagt Rosmarie Wydler-Wälti augenzwinkernd. «Das waren starke Frauen, so wie wir auch.» Auf dieses Geschimpfe reagieren die Frauen gar nicht. «Sonst stürmen sie nur noch mehr», sagt Anne Mahrer.
Auf der anderen Seite bekommen die Klima-Seniorinnen auch viel Zuspruch von Studentinnen, Nachbarn, Freundinnen, Verwandten. «Das ist es, was mich am meisten motiviert», sagt Anne Mahrer. «Der Kampf für das Klima ist zu einer Herzensangelegenheit geworden», ergänzt Rosmarie Wydler-Wälti. Aktivistin mit über 70? Warum eigentlich sollte ein Lebensabend nicht so aussehen?