Von den vielen Gratulationen, die Rosmarie Wydler-Wälti in den letzten Tagen bekommen hat, haben sie manche doch ein wenig überrascht. «Es haben sich Bekannte bei mir gemeldet, von denen ich es nicht erwartet hätte. Frauen, die nie Mitglied in unserem Verein geworden sind», erzählt Wydler-Wälti. «Doch selbst die haben jetzt wohl gemerkt, dass die Klimaklage nicht nur eine Furzidee von mir ist.»
ARD ist beim Packen dabei
Klar ist: Über diese «Furzidee» redet die ganze Welt. Ob CNN, «New York Times» oder «Spiegel»: Alle berichten vom «Meilenstein», den die «älteren Schweizer Damen» erreicht haben.
Die Reise nach Strassburg beginnt am Montagmorgen. Rosmarie Wydler-Wälti (74) Co-Präsidentin der Klima-Seniorinnen, packt zu Hause ihre Sachen. Nebenbei wird sie von der ARD gefilmt und dazwischen gibt sie auch noch zwei andere Interviews. «Mir schwirrte schon ein wenig der Kopf. Am Schluss habe ich meinen Mann vom Bahnhof Basel aus angerufen, um zu fragen, ob mein Regenmantel noch zu Hause liegt.» Später wird Christoph sie auf ihrem Trip zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte begleiten. «Er ist eine grosse Unterstützung», sagt Rosmarie.
Am Basler Bahnhof wird sie sogleich wieder umringt von Medienschaffenden – das Interesse an den Klima-Seniorinnen ist riesig. Mit im Zug reisen neben Rosmarie Wydler-Wälti und ihrer Co-Präsidentin Anne Mahrer (75) auch der ganze Vorstand, etwa 50 Vereinsmitglieder, Vertreter von Greenpeace und die involvierten Anwältinnen. Die Stimmung während der Fahrt ist fröhlich. Wydler-Wälti: «Wir sind davon ausgegangen, dass wir nicht komplett abblitzen werden. Aber unsere Anwältinnen haben uns immer wieder gewarnt, dass wir nicht grad vom Besten ausgehen sollen. Erwartet haben wir deshalb, dass wir etwa bei der Hälfte unserer Anliegen gewinnen.»
Am Montagabend im Hotel in Strassburg ist Rosmarie Wydler-Wälti vor allem eins: müde. Sie bespricht sich nochmals mit den Juristinnen, «schliesslich mussten wir auf alle möglichen Szenarien vorbereitet sein». Dann beantwortet sie noch Medienanfragen und geht schliesslich ins Bett. Morgen ist der grosse Tag. «Geschlafen habe ich gut, aber ich bin sehr früh aufgewacht und für mich nochmals alles durchgegangen.» Mit ihrem Mann und den Vereinsfrauen frühstückt sie im Hotel, dann gehts per Bus zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Es ist das Ende einer insgesamt achtjährigen Reise. Begonnen hatte alles mit einem simplen Vorwurf: Die Schweiz tue zu wenig, um Seniorinnen vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Seit dem Hitzesommer 2003 ist klar, dass Frauen ab 75 Jahren von den steigenden Temperaturen überdurchschnittlich stark betroffen sind. Sie können weniger schwitzen und sterben häufiger aufgrund der Extremtemperaturen.
Der Verein mit Rosmarie Wydler-Wälti – ehemalige Kindergärtnerin – und Anne Mahrer – früher Grünen-Politikerin aus Genf – hat inzwischen über 2500 Mitglieder, die im Schnitt 73 Jahre alt sind. Unterstützt werden die Frauen, auch finanziell, von Greenpeace. Doch die Seniorinnen sind die direkt Betroffenen, deshalb sind sie es, die die Klage eingereicht haben. Und das nicht nur in Strassburg. Vor dem Urteil dieser Woche wurden die Klima-Seniorinnen schon oft abgewiesen: 2016 vom Umweltdepartement, 2018 vom Bundesverwaltungsgericht, 2020 vom Bundesgericht. «Es war ein Marathon, der acht Jahre dauerte», sagt Anne Mahrer, «aber uns geht die Luft nicht so schnell aus.»
Technische Probleme im Saal
Dienstagmorgen in Strassburg. Wydler-Wälti geht vor Beginn der Urteilsverkündung noch kurz aufs WC – und trifft dort auf Greta Thunberg. «Sie hat mich gar nicht angeschaut», sagt Wydler-Wälti. «Doch das hat bei ihr nicht so viel zu bedeuten.» Die schwedische Klimaaktivistin hat das Asperger-Syndrom. Später werden sich die beiden aber noch austauschen.
Dann geht es endlich los. Die Vereinspräsidentinnen nehmen in der ersten Reihe Platz. Sie kriegen ein Übersetzungsgerät – «leider haben wir beide nicht gecheckt, wie es funktioniert». Sie könne Englisch, sagt Wydler-Wälti, doch die amtliche Sprache eines Gerichts sei noch einmal etwas ganz anderes. «Zum Glück wussten wir ja, dass unsere Anwältinnen alles genau verstehen.» Während Wydler-Wälti «total aufgeregt» im Gerichtssaal sitzt, fällt ihr auf, dass die Gegnerseite ausschliesslich aus Männern besteht. «Das ist kein Zufall», denkt sie sich.
Nach einer halben Stunde flüstert ihr ein Sitznachbar zu, dass sie «das Maximum rausgeholt» hätten. Nach der Urteilsverkündung bespricht sich das Juristinnen-Team kurz in einem Nebenraum. «Als sie rauskamen, habe ich jede Einzelne von ihnen gefragt: Stimmt das wirklich, haben wir tatsächlich gewonnen?», sagt Wydler-Wälti. Alle fallen sich um den Hals. «Danach sind wir die Wendeltreppe nur so runtergeschwebt und haben ein Interview nach dem anderen gegeben.»
Die Frauen feiern ihren historischen Sieg mit Elsässer Schaumwein und einem Abendessen in Strassburg. Und dann gehts am nächsten Morgen auch schon wieder zurück an die Arbeit. «Wir machen mit den Anwältinnen jetzt eine genaue Analyse des Urteils», sagt Anne Mahrer. «Ich freue mich nicht nur für meine Generation, sondern auch für alle nachfolgenden. Wir sind stolz.» Auch Rosmarie Wydler-Wälti spürt grosse Genugtuung. «Wir wurden so lange nicht ernst genommen», sagt sie. «Jetzt hoffe ich auf einen Dominoeffekt, der das Thema Klimawandel in der Schweiz wieder richtig aufs Tapet bringt.»
Einen Glücksbringer hat Wydler-Wälti bei ihrer Reise übrigens nicht dabei. «Aber die Zahl neun war schon immer meine Glückszahl. Wir hatten schon an verschiedenen Orten die Hausnummer neun. Und am 9. April hat auch noch einer meiner Söhne Geburtstag. Deshalb war es ein gutes Omen, dass das Urteil am 9. verkündet wurde.»
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt klar: Bleibt die Schweiz untätig, verletzt sie die Menschenrechte. Allerdings steht im Urteil nicht, mit welchen Massnahmen die Schweiz den Klimawandel bekämpfen soll – dies müsse im politischen Prozess geklärt werden. Der Ball liegt nun beim Justizdepartement, das die Schweiz gegenüber dem Gericht in Strassburg vertritt. Das EJPD prüft zusammen mit den Behörden, wie es weitergeht. Bislang gibt es das CO2-Gesetz, welches einzelne Massnahmen regelt. Es enthält aber keine neue Abgaben. Im Juni stimmt die Schweiz über das Stromgesetz ab, das neue Energien fördern soll. Auch dafür gibt es keine neuen Abgaben. Doch was, wenn die Bevölkerung nicht mehr Umweltschutz will? Klar ist, der EGMR kann einen Volksentscheid nicht umstürzen. Doch die Verletzung der Konvention bliebe bestehen.