Eines seiner russischen Lieblingswörter ist «obidno». «Ich kanns nicht richtig übersetzen», sagt Christof Franzen (52). «Es beschreibt eine melancholische Stimmung zwischen beleidigt und gekränkt. Ein sehr russisches Gefühl.» Elf Jahre lang ist Christof Franzen «unser Mann in
Russland». Als SRF-Korrespondent berichtet er aus Moskau und Sibirien, aus Sotschi und Sankt Petersburg. Er fühlt sich heimisch im Land, isst gern Hering im Mantel und Blinis, eine Art Pfannkuchen.
Dok-Filmer und Sonderkorrespondent
Sein Gesicht ist bei uns bekannt. Franzen wird von einem Studenten angesprochen, der um ein Selfie bittet, und von einem Mann, der «alles schaut, was er macht». «Dem habe ich vorhin eine Zwanzigernote zugesteckt», sagt Franzen und lacht. Der Walliser wohnt seit 2018 nicht mehr in Moskau, sondern in Uster ZH, und arbeitet als Dok-Filmer fürs SRF. Doch jetzt packt er den Koffer: Als Sonderkorrespondent kehrt Franzen etwa einmal pro Monat für kurze Aufenthalte nach Russland zurück, während seine Nachfolgerin Luzia Tschirky (32) im Mutterschaftsurlaub ist.
Die anstehende Reise weckt bei ihm nicht nur Vorfreude. «Die Stimmung gegenüber dem Westen hat sich geändert», sagt Franzen, während er um sein Büro beim Fernsehstudio in Zürich spaziert. «Ich frage mich, wie die Leute reagieren, wenn ich mit der Kamera auftauche.» Als Stimmungstest dient ihm ein Witz: «Wenn ich mich in Russland irgendwo anmelden oder registrieren muss, sage ich jetzt jeweils, dass ich aus dem ‹unfreundlichen› Land Schweiz komme.» Zu dieser Kategorie gehört die Schweiz, seit sie die Sanktionen übernommen hat. Franzen ist gespannt, ob die Russen darüber noch lachen können.
Reise in die entlegenen Provinzen
Christof Franzen hat Journalismus, Politologie und Russisch studiert und lacht in einem heiteren Dreiklang. Auch dann, wenns nicht mehr lustig ist. «Mein Problem als Korrespondent ist, dass viele Leute nicht mehr reden wollen. Sie haben Angst.» Die Propaganda der russischen Regierung ist allgegenwärtig. Wer sich per Fernseher informiere, sei «verloren». Darum will er in entlegene Provinzen reisen, wo die Bevölkerung den Ukraine-Krieg spürt, weil ihre Söhne eingezogen wurden.
Der Galgenhumor, der den Walliser von der Bettmeralp mit den Russen verbindet und ihm viele fröhliche Abende beschert hat («damals hab ich noch mehr Wodka getrunken»), scheint ihm jetzt manchmal im Hals stecken zu bleiben. Mit der Familie zurück nach Russland? «Derzeit undenkbar. Wir sind im richtigen Moment gegangen.»
Gerüchte um Putins Familie
Seine russische Frau Galina (51) hat er 2007 kennengelernt. «Mein Kameramann fand, dass ich eine Produzentin brauche, und schlug seine Schwester vor.» Beim Hochzeitstanz läuft ein Stück von Dmitri Schostakowitsch. Galina bringt zwei Töchter in die Ehe mit: Dasha (28) arbeitet als Grafikdesignerin in Moskau. Maria (20) studiert dort Musikethnologie, hat sich jetzt aber für Psychologie an der Uni Freiburg eingeschrieben.
Nach der Hochzeit kommt erst Andrej zur Welt, dann Sophia. «Damals war unsere Familiensprache Russisch», erzählt Franzen. «Heute sprechen alle super Hochdeutsch – ausser mir.» Der Walliser Singsang ist ihm geblieben. Andrej (13) und Sophia (9) besuchten in Moskau die Deutsche Schule. Gerüchteweise dieselbe, in die früher Putins Töchter gingen und später ein Enkel. «Putin war mal dort», sagt Franzen über den russischen Präsidenten, «mehr weiss ich nicht.»
Jetzt begleitet Andrej seinen Papa zum Flughafen, bevor der für zwei Wochen verreist. Der 13-Jährige hat gute Erinnerungen an seine alte Heimat: «In Moskau gefällt mir, wie freundlich die Leute sind und dass sie oft ein Gespräch anfangen.» Andrej war seit Kriegsbeginn nicht mehr in Moskau. «Wenn die Situation mit dem Reisen und allem anders wäre, dann würde ich gern wieder hin.»
Der Vater hat dem Sohn einen Burger versprochen, also gibts vor dem Abflug noch einen Zwischenstopp. Im Koffer hat Franzen «das Übliche»: Greyerzer, Emmentaler und Schoggi. Der erste Satz, den er auf Russisch konnte, war: «Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft.» Er erinnert sich, wie er vor 30 Jahren ganze Abende lang bei Leuten zu Hause war, überhaupt nicht mitreden konnte, sich am Schluss aber immer nett bedankte. Er sei kein Anwalt der Russinnen und Russen, sagt Franzen, aber ein Türöffner.
Wer kommt nach Putin?
Bei so viel Sympathie – tun ihm die Russen leid? «Das ist eine schwierige Frage. Damit brächte ich sie ja in die Opferrolle. Und die Opfer sind klar die Ukrainer.» Würden morgen 500'000 Menschen in Moskau demonstrieren, «wär der Krieg vorbei», so Franzen. «Aber es passiert nicht. Viele tun den Krieg als Politik ab.» Noch eine schwierige Frage: Wie wird der Krieg enden? «Im Moment sehe ich keine Lösung», sagt Franzen und seufzt. «Vielleicht durch Abnützung.» Möglich sei auch, dass jemand Neues anstelle von Putin auftauche. «Aber ob das dann gut ist …? Putin ist böser geworden. Doch rechts von ihm hats auch noch viel Platz.»
Jetzt muss Franzen aber los, sonst verpasst er das Boarding. Er wird über Istanbul nach Moskau fliegen. Direktflüge aus der «unfreundlichen» Schweiz gibt es nicht mehr. Ein anderes russisches Lieblingswort kommt ihm noch in den Sinn. «Ladno» heisst so viel wie: «Es kommt schon gut.» Aber auch: «Es ist halt einfach so, wie es ist.»