Als Donna Leon an einem Tag im September im Münstertal in Graubünden ihren ersten Alpabzug sah, war sie tief berührt. Wie die Menschen ihre Tiere wertschätzen, führte ihr vor Augen, wie richtig ihr Entscheid war, Venedig zu verlassen. Jahrzehntelang trug die Amerikanerin in der Lagunenstadt den Stoff für ihre Brunetti-Krimis zusammen. Dann kam der unerträgliche Massentourismus. Am liebsten würde sie mit einem U-Boot durch die Kanäle fahren und die Kreuzfahrtschiffe bombardieren: «Auf der Strada Nova fühlte ich mich wie in Mumbai. So ein Gedränge! Ich musste weg.»
Vor zehn Jahren stiess sie in der NZZ auf ein Inserat für ein Bauernhaus im Val Müstair (Baujahr 1678). Letzten Oktober wurde sie eingebürgert. Der Weltstar, der erst mit 50 zum Schreiben fand, freut sich auf den Sommer in den Bergen. Besonders gern spaziert Leon zur Alp Prasüra, wo sie Butter und Käse kauft. In ihrem Kopf rattert es unermüdlich. Diese Woche erscheint ihr 30. Brunetti-Roman. Die 78-Jährige hat wahrlich Löwenkräfte! Und viel Humor, wie sie beim ausgelassenen Interview im Diogenes Verlag in Zürich beweist.
Donna Leon, im Film «Die Schweizermacher» werden Einbürgerungswillige auf Herz und Nieren geprüft. Wie erging es Ihnen?
Mein Alter hat mir sicher geholfen. Und dass ich keine Immigrantin bin oder mit Drogen, Waffen und Ähnlichem deale – ausser in meiner Fantasie. Ich konnte alles vorweisen: Einkommen, Wohnsitz, Krankenkasse (lacht). Wir haben uns sogar über Wilhelm Tell unterhalten. Am Anfang dachte ich, die Leute von der Gemeinde machen einen Witz. Doch sie meinten, das ist unser Nationalheld, darüber müssen Sie Bescheid wissen. Ich teile diese Meinung: Wer integriert sein will, sollte die Geschichte und ihre Helden kennen.
Wie eng sind Sie im Dorf vernetzt?
Niemand schenkt mir übertriebene Aufmerksamkeit. Die Leute sind auf angenehme Art reserviert. Ich mag dieses Formelle, das einhergeht mit einer grossen Hilfsbereitschaft. Gehe ich auf einen Spaziergang, schliesse ich die Tür nicht ab, weil Vertrauen da ist. Koche ich abends Pasta und habe kein Salz, läute ich bei den Nachbarn. Ich frage sie auf Italienisch, sie antworten auf Rätoromanisch. Wir verstehen uns.
Welche Magie üben die Berge auf Sie aus?
Ich bin in New Jersey geboren; mein deutscher Grossvater besass dort eine Kuhfarm. Der Geruch ist mir also vertraut. Auch die Landschaft ist ähnlich. Kürzlich begegnete ich einem Bart-geier, meinem neuen Lieblingstier. Aber zurück zu Ihrer Frage: Die Berge sind für mich deshalb so bedeutsam, weil sie das Einzige sind, was der Mensch nicht zerstören kann. Für die Ozeane und die Wälder hingegen sehe ich schwarz.
Warum so pessimistisch? Die grüne Welle nimmt doch gerade Fahrt auf.
Die Bemühungen, die jetzt in sind, kommen zu spät. Der Mensch hat in nur wenigen Jahrzehnten eine Katastrophe hinterlassen. Nehmen Sie das Beispiel Venedig: Der Tourismus hat die Stadt zu einer Monokultur gemacht. Wir müssten uns radikal umstellen und uns vom Egoismus verabschieden. Wir haben diesen Planeten ruiniert, basta!
Zurück zur Einfachheit?
Zur Ehrlichkeit sich selber gegenüber. Dazu gehört die Einsicht, dass es auch mit weniger geht. Zufrieden zu sein mit dem, was man hat, ist eine ganz wichtige Sache! Dazu eine kleine Geschichte. Im Jahr 1910 wurde John Jacob Astor, damals der reichste Mensch der Welt – er ging mit der «Titanic» unter – von Journalisten gefragt: Mister Astor, wissen Sie eigentlich, was genug bedeutet? Er sagte: Ja, ich glaube schon: «Enough means just a little bit more.» («Genug bedeutet ein kleines bisschen mehr.») Ich finde es widerlich, wenn man den Hals nicht vollkriegen kann.
Wie sieht ein gewöhnlicher Tag im Leben von Donna Leon aus?
Ich öffne meine Augen und trinke um sechs Uhr den ersten Kaffee. Dann lese ich auf dem iPad eine halbe Stunde die «Gazzettino» und «la Nuova Venezia». Von elf bis vierzehn Uhr arbeite ich. Als ich noch ein Kind war, haben mein Bruder und ich immer erst die Hausaufgaben erledigt. So wurden wir erzogen. Diese Gewohnheit, dass erst die Arbeit und dann das Vergnügen kommt, ist tief in mir drin. Ich mache einfach meinen Job – und ich mache ihn gut. Ich weiss, dass immer Anfang Mai das neue Buch fertig sein muss.
Seit 30 Jahren ist Brunetti Ihr treuer Begleiter. Haben Sie den Typen nicht langsam satt?
Natürlich nicht, ich habe ihn ja nach meinen Vorstellungen erschaffen (sie schmunzelt keck wie ein junges Mädchen). Mein Kommissar ist intelligent, charmant, freundlich, demütig, moralisch integer. Warum soll ich Zeit mit jemandem verbringen, der Alkoholiker, beziehungsgestört und frauenfeindlich ist, seine Unterwäsche nicht wechselt und keinen coolen Haarschnitt hat – wie die meisten Kommissare? Sogar Strassenhunde haben mehr Stil. Als ich mit dem ersten Krimi begann, betrachtete ich Guido Brunetti als meinen Mann. Von einem solch interessanten Menschen trennen Sie sich nicht leichtfertig.
Mögen Sie Ihr neues Buch?
Fünf oder sechs finde ich richtig gut, dieses gehört dazu. Warum? Es hat eine Beobachtungstiefe wie selten zuvor und bewegt sich zwischen sozialen, emotionalen und kriminellen Abgründen. Die Protagonisten entlarven sich dadurch, wie sie etwas sagen. Der Grund, warum Menschen gern Romane lesen, ist, weil uns Bücher die Wahrheit erzählen. Im Gegensatz zur realen Welt, in der wir ständig belogen werden.
Wie gehen Sie beim Schreiben vor?
Es gibt kein Konzept. Ich fühle mich nicht wie die Autorin, sondern wie die Leserin, die nicht weiss, was im nächsten Moment passiert. Manchmal habe ich erst auf Seite 300 den Geistesblitz, wer die Tat begangen haben könnte.
Welche Rolle spielen Frauen an Brunettis Seite?
Sie sind taff, schlau, stark und machen den Leser, die Leserin zu ihren Komplizen. Es sind Vorbilder in einer Welt, in der Frauen noch immer einen schweren Stand haben.
Hat die Emanzipation versagt?
Wir haben noch immer nicht begriffen, wie bescheiden der Einfluss des Feminismus bisher war. Der Gedanke der Gleichstellung ist in vielen Männerköpfen noch immer nicht angekommen.
Sind Sie stolz auf Ihr Lebenswerk?
Wirklich stolz bin ich nur auf meine musikalische Tätigkeit. Ich bin Händel-Fanatikerin. Seit 2012 unterstütze ich das italienische Barockorchester Il pomo d’oro. Die Freude, bei den Proben und Aufnahmen dabei zu sein und im unendlichen Genuss dieser Musik zu schwelgen, macht mich zum glücklichsten Menschen auf Erden.
Müssten Sie sich zwischen Literatur oder Musik entscheiden …
… würde ich Musik wählen! Musik ist viel bedeutsamer und höher zu werten, als das, was ich mache. Musiker sind für mich die echten Stars.
Stimmt es, dass Sie kein Handy haben?
Das «Telefonino» ist so schrecklich wie eine Pistole. Es mag für die heutige Generation unglaublich klingen, aber es ist tatsächlich möglich, ohne Handy zu leben! Man kann mich zu Hause anrufen oder eine Mail schicken. Das «Bling» auf meinem Computer ist ein wunderbarer Ton.
Sie sind fit wie ein Turnschuh. Wie bleibt man so lebendig?
Mein Energiepotenzial war schon immer hoch. Warum soll ich meine Power nicht nutzen? Fit sein ist ein Gesamtkonzept, dazu gehören Bewegung, Ernährung, Denkübungen, Humor, Optimismus. Lachen ist sicher besser als weinen.
Hat der Tod einen Platz in Ihrem Leben?
Der Tod holt mich eh ein, ob ich nun intensiv darüber nachdenke oder nicht. Wahrscheinlich kommt er sogar etwas schneller, wenn man sich zu grosse Sorgen macht.
Ist es schwer, alt zu werden?
Zu realisieren, dass man physisch schwächer wird, ist keine einfache Sache. Für gewisse Tätigkeiten, wie einen Tag lang in meinem geliebten Garten die Erde umzugraben, fehlt mir immer mehr die Kraft.
Würden Sie alles wieder so machen?
Ich bedauere nicht, was ich gemacht habe, sondern was ich nicht gemacht habe. Chancen, die ich nicht ergriffenen habe, Orte, die ich nicht besucht habe, Menschen, für die ich mir keine oder zu wenig Zeit genommen habe.
Wie oft verlassen Sie das Val Müstair?
Ich vergleiche mich mit einem alten Auto, das hin und wieder in den Service muss. Bin ich in Zürich, gehe ich zum Zahnarzt, zum Augenarzt, besuche den Verlag, schaue mir die Stadt an. Ab und zu bin ich in Venedig und treffe Freunde. Während Corona musste ich komplett aufs Reisen verzichten. Ganz ehrlich: Ich fand es fantastisch.