Lara Gut-Behrami, im Dezember 2007 bestritten Sie Ihr erstes Weltcuprennen – vor fast 15 Jahren. Eine halbe Ewigkeit. Was ist Ihr Rezept der ewigen Jugend?
Es ist nicht die ewige Jugend. Ich bin quasi im Skisport aufgewachsen, habe immer hart gearbeitet und mich entwickelt. Alle Höhen und Tiefen, die junge Menschen sonst im Privaten durchmachen, habe ich im Spitzensport erlebt – unter den Augen der Öffentlichkeit. Ich hatte mehr Mühe, damit umzugehen, als ich je zugegeben habe. Klar, ich spüre eine gewisse Müdigkeit, es war nicht immer alles einfach und freudig. Anderseits konnte ich das Skifahren noch nie so sehr geniessen wie jetzt.
Ein Rücktritt war also noch nie Thema?
Nein. Nicht ernsthaft.
Sie haben praktisch alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Wie schaffen Sie es dennoch, sich stets wieder neu zu motivieren?
Mir geht es nicht in erster Linie um Resultate. Ich fahre Ski, weil ich Spass daran habe. Und ich sehe weiterhin Entwicklungspotenzial. Am meisten Freude habe ich, wenn es mir gelingt, eine Kurve noch besser zu fahren und die Technik zu optimieren. Heute ist das Skifahren für mich ein Dürfen. Und es ist nicht mehr das einzige zentrale Element.
Wie meinen Sie das?
Ich will mich auch menschlich und persönlich weiterentwickeln. Irgendwann kommt der Punkt, an dem ich sagen werde: Ich liebe das Skifahren, aber ich kann mich nicht mehr mit der nötigen Energie dafür einsetzen. Jetzt reicht es – ich bin bereit, Neues in meinem Leben zu unternehmen.
Sie denken also, der Moment des Rücktritts sei auch eine intuitive Entscheidung?
Vor allem hoffe ich, dass ich diesen Moment selber bestimmen kann. Es ist das Schönste für jede Sportlerin, wenn sie freiwillig zurücktreten kann – und nicht von physischen oder psychischen Umständen dazu gezwungen wird.
Man musste lesen, dass Sie in der wettkampffreien Zeit mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatten. Wie geht es Ihnen denn?
Danke, gut. Alles fing mit einer Grippe im November 2021 an, die ich wochenlang nicht auskurieren konnte. Dann kam Corona dazu. Ich kämpfte den ganzen Winter mit meiner Gesundheit. Noch im April hatte ich das Gefühl, mich weniger schnell zu erholen. Wir machten Bluttests, konsultierten Lungenspezialisten, und die stellten eine Lungeninfektion fest. Meine Sauerstoff-Aufnahmekapazität war um 20 Prozent eingeschränkt. Die Blutkontrollen zeigten, dass ich an einem ähnlichen Virus wie dem des Pfeifferschen Drüsenfiebers gelitten hatte.
Sie sind in der Schweizer Öffentlichkeit erwachsen geworden. Wars manchmal schwierig, dass alle stets Kommentare abgaben?
Ja, sicher. Im Nachhinein merke ich das ganz deutlich. Mit 17 war ich schon in der Öffentlichkeit, aber ich war überhaupt nicht bereit, mit dieser Rolle umzugehen. Ich wollte mich schützen. Aber ich wusste nicht genau, wie. Und wenn man sich in einer Situation unwohl fühlt, reagiert jeder anders. Bei mir war es eine Mischung aus Verschlossenheit, Müdigkeit und Verbissenheit. Das war wie ein Selbstschutz – einer, der mich vermutlich noch mehr fertigmachte. Heute weiss ich, dass ich nicht alles richtig gemacht habe, aber ich wusste es damals nicht besser.
Was würden Sie heute anders machen?
Ich würde mich anders schützen. Oft fühlte ich mich unverstanden und hatte das Gefühl, alle anderen seien schuld – und keiner wollte mich verstehen! Ich realisierte nicht, dass ich die Situation selber in der Hand hatte und meine Entscheidungen konsequenter hätte treffen können. Dabei spreche ich nicht unbedingt vom Sport, sondern von meiner Person.
«Valon gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Ich habe gelernt, dass man sich am stärksten fühlt, wenn man Schwächen zeigt»
Lara Gut-Behrami
Wo liegt der Unterschied?
Als Sportlerin habe ich früh gelernt, Entscheidungen zu treffen, viel zu hinterfragen und konsequent dahinterzustehen. Als Persönlichkeit dagegen war ich bis zur Verletzungspause 2017 weniger weit. Ich realisierte erst mit Verzögerung, dass ich mich als Mensch genauso hätte verhalten sollen. Ich hatte wenig Selbstvertrauen in mich als Frau, in mich als Mensch. Ich liess mich vom Gedanken leiten, dass die anderen es besser wissen. So schaute und hörte ich zu wenig auf mich selber. An einem Tag redete ich, weil jemand mir sagte, ich solle sprechen. Am folgenden Tag schwieg ich, weil ich mich missverstanden fühlte. Und so wurde das Durcheinander noch grösser.
Wie wichtig war Ihr Ehemann Valon Behrami in Ihrer Entwicklung?
Es ist schwierig, im Sport mit offenem Herzen zu sprechen. Denn letztlich bleibt immer dieses Gefühl haften: Wer Schwäche zugibt oder zeigt, wird noch schwächer, weil dann alle deine Schwächen kennen. Zu Hause können Valon und ich offen über alles sprechen. Und nun erkenne ich viel klarer, was mit mir passiert ist – weshalb es gelegentlich vielleicht nicht gut lief und warum ich Dinge so erlebt habe. Dank Valon habe ich mich menschlich entwickeln können. Er hat mir ein neues Gefühl der Sicherheit gegeben. Ich habe gelernt, dass man sich am stärksten fühlt, wenn man Schwäche zeigt.
Wie wichtig sind da die Teamkolleginnen?
Mir hilft es zu sehen, dass auch bei ihnen ein Reifeprozess stattfindet, dass sich die Menschen verändern. Wenn man realisiert, dass es vielen ähnlich geht – dass auch sie mal harte Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen müssen –, tut dies gut. Was unter Frauen manchmal schwierig sein kann, ist der gegenseitige Neid. Ich spreche da nicht teamintern. Aber in meiner Karriere – auch abseits der Piste – habe ich öfters erlebt, dass mich Frauen fertigmachen wollten, und nicht Männer. Und dann spricht man von Frauensolidarität! Ich habe meinen Mann kennengelernt, als ich 26 Jahre alt war. Ich wäre froh gewesen, wenn mir schon davor jemand hätte helfen können.
Mit Ihrem Vater ging das nicht?
Schon. Aber das ist ganz anders. Es lag eher an mir, man soll bereit sein, sich als Mensch infrage zu stellen.
Gibt es im Skizirkus überhaupt Platz für echte Freundschaften?
Das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Aber die Aussage, dass der Skizirkus wie eine grosse Familie ist, mutet doch eher heuchlerisch an. Die Familie ist für dich da, wenn es dir nicht gut geht. Bei der Skifamilie ist das anders.
Inwiefern?
Wenn du aufhörst – oder du bist verletzt, kommen ein paar Kolleginnen und Trainer und sagen: «Es tut uns leid.» Aber es ist nicht so, dass sich die ganze Skifamilie um dich kümmert. Du wirst schnell vergessen – vielleicht bist du noch Olympiasiegerin und Weltmeisterin, aber bald hast du davon nichts mehr. Deshalb würde ich mit dem Wort «Familie» vorsichtig umgehen.
Aber existieren denn Freundschaften?
Wir sind das ganze Jahr unterwegs. Deshalb arrangiert man sich und ist auch mit Menschen zusammen, mit denen man, abgesehen vom Skifahren, nicht viel gemeinsam hat. Eine wahre Freundin im Skirennsport, mit der ich über alles diskutieren konnte, war die Österreicherin Anna Veith. Ich bin froh, dass ich Anna hatte, als sie noch Rennen fuhr – und ich bin froh, dass ich sie noch immer als Freundin habe.
Kann man sich freuen, wenn eine Teamkollegin ein Rennen gewinnt?
Der Respekt ist immer da. Und ja, man kann sich tatsächlich sehr freuen. Was mich aber stört, ist die Heuchelei – auch in den sozialen Medien. Vielen ist es wichtig, sofort allen zu gratulieren. Aber letztlich machen sie dies nur aus Imagegründen – damit alle denken, man sei ein besserer und lieber Mensch, weil man sich zuerst um die anderen kümmert und sofort gratuliert. Wenn man sich wirklich für eine Teamkollegin freut, muss man dies nicht öffentlich zur Schau stellen.
Sondern?
Die Freundinnen, die sich wirklich füreinander freuen, umarmen einander im Gang zum Skikeller – oder an einem anderen Ort, wo es niemand sieht. Das habe ich so erlebt – von Leuten, von denen ich es nie gedacht hätte. Menschen, die mir erzählten, dass sie mitten in der Nacht aufgestanden seien, um meinen Olympiasieg in Peking zu sehen – ohne dass sie dies gleich auf Facebook oder Instagram gepostet hätten. Das hat mich extrem berührt, das war echt und nicht zur Schau gestellt.