Kleine Reise in die Vergangenheit. Lara Gut ist 18-jährig, steckt mitten im Wettlauf mit der Zeit: Reha nach einer Hüftluxation versus Olympiastart. Ski fährt sie bereits wieder, doch dann entscheidet die junge Tessinerin: Ist sie nicht fit genug, um Medaillen zu gewinnen, macht die Reise 2010 nach Vancouver keinen Sinn. Null Problem für den Teenager. Lara hat Geduld – und nichts zu verpassen.
Zwölf Jahre ist das her – ein langes Geduldsspiel bis zum persönlichen Happy End mit den fünf Ringen. Jetzt dafür richtig: Gold im Super-G, Bronze im Riesenslalom. Ein Häkchen hinter allem, was man im Skisport gewinnen kann. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Die 30-Jährige fährt diese Erfolge mit einer Ruhe heraus, die sie nicht immer ausgestrahlt hat. Man spürt: Sie ist angekommen im Leben. Hat einen Ausgleich gefunden zu ihrem Ehrgeiz, der sie antreibt und sie über viele Jahre geprägt hat.
«Ich realisierte oft nicht, was ich schon alles erreicht hatte»
Lara Gut-Behrami
«Einer der grössten Fehler meiner Karriere war, dass ich oft nicht realisierte, was ich schon alles erreicht hatte», sagt sie in einem Fernsehinterview nach dem Olympiagold im Super-G. «Ich habe immer versucht und probiert. Meine Familie und mein Mann haben mich gelehrt, dass ich mir meine Leistungen bewusst mache. Das gibt mir die Lockerheit und das Selbstvertrauen, dass ich gewinnen kann.» Lara Gut brauchte eine grosse Verletzung und eine grosse Liebe, um zu begreifen, dass nicht nur die Athletin in ihr Ansprüche hat. Sondern auch der Mensch. Und dass sie für diese innere Balance kämpfen, gewisse Dinge ändern muss.
Enges Verhältnis zum jüngeren Bruder Ian
Das Siegen hat Lara von klein auf im Blut. Die Tessinerin bestreitet die Schule mit Leichtigkeit, ist in allen Bereichen lernbegierig und gewinnt, wo sie antritt. «Ich musste immer aufgeben und akzeptieren, dass sie besser ist als ich», sagt ihr Bruder Ian, 26, als seine grosse Schwester 2016 den Gesamtweltcup gewinnt. Er meint alles, vom Kartenspielen bis zum Skifahren. Ian Gut fährt auch heute noch Rennen, ein und zwei Stufen unter dem Weltcup, startet mittlerweile für Liechtenstein. Doch die beiden haben ein enges Verhältnis. Ian führt das auf ausgiebige Ferien in der Kindheit zurück, einmal reist die Familie volle zehn Wochen lang im Wohnmobil durch Europa. Ausserdem hilft ihm die grosse Schwester im Gymnasium mit dem Deutschlernen.
Die ganze Familie ist skiverrückt, Vater Pauli ist ihr Trainer, und Lara hat seit je sehr genaue Vorstellungen davon, was sie will. Das ist einerseits ihr Erfolgsgeheimnis, führt anderseits aber immer wieder zu Spannungen mit dem Verband und den anderen Fahrerinnen. Sie spürt schon sehr früh «instinktiv, dass ich das lieber alleine mache». Da sie bereits als 16-Jährige an der Weltspitze ist, übernimmt sie schnell die finanzielle Verantwortung für das Familienbusiness. Ein grosser Druck, zumal sie sich ständig für den Extraweg rechtfertigen muss. Ein Schicksal, das sie mit anderen äusserst erfolgreichen und zuweilen exzentrischen Skistars wie Janica Kostelic, Marcel Hirscher, Bode Miller oder Tina Maze teilt.
Ein ganz anderer Abstand zu den Menschen in Italien
Dazu kämpft sie gegen das Skischätzli-Image, das ihr als Mädchen verpasst wurde. Sie hat Mühe damit, dass viele noch heute den lachenden Teenager im Kopf haben. «In Udine, wo ich mit meinem Mann ein Haus habe, erkennen uns die Leute. Aber ich bin für sie eine erwachsene Frau, die Ski fährt und Erfolg hat», sagt sie letztes Jahr in der «NZZ am Sonntag». «Sie haben mir nicht beim Erwachsenwerden zugeschaut wie die Leute in der Schweiz. Dadurch entsteht ein ganz anderer Abstand, der mir Ruhe gibt.»
Der erste grosse Einschnitt in ihrem Leben erfolgt aber, noch bevor sie ihren Mann Valon Behrami, 36, kennenlernt. Es ist 2017 und die Saison nach dem Gewinn des Gesamtweltcups, Gut reiht wieder Sieg an Sieg aneinander. An der Heim-WM in St. Moritz will sie endlich WM-Gold holen. Doch dann reisst das Kreuzband. Die Skischweiz ist geschockt, Gut aber spürt rasch, dass ihr Körper bloss die Notbremse gezogen hat. Ein halbes Jahr zieht sie sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Sie habe sich nach dem Triumph im Gesamtweltcup wie ein Objekt gefühlt, wird sie später erzählen. «Alle sprachen nur von der Kugel. Nicht davon, wie es mir geht.» Es wird ihr alles zu viel, sie braucht eine Pause – und die Verletzung gibt ihr diese. Sie trifft sich spontan mit alten Freundinnen, geht aus, liest ausgiebig Bücher, realisiert: «Das letzte Mal, als ich Zeit für mich hatte, war ich minderjährig. Nun bin ich 26, eine Frau.»
«Ich bin auch als Mensch ruhiger geworden. Bin ich zu Hause, gehts um viele andere Sachen als Ski»
Lara Gut-Behrami
Diese Erkenntnis ändert für sie vieles. Es ist vielleicht kein Zufall, dass kurz darauf Valon Behrami in ihr Leben tritt. Der ehemalige Schweizer Fussball-Nationalspieler, der als Kind aus dem damaligen Jugoslawien in die Schweiz flüchtete – stark, stolz, charismatisch. Und ein Kämpfer wie seine neue Liebe. Die beiden heiraten schnell, und ihr Haus in Udine in Norditalien ist heute Laras Wohlfühlort, ihr Gegenpol zur Hektik auf den Pisten, ihre Akku-Aufladestation. Länger als zwei Wochen am Stück möchte sie nicht mehr weg von zu Hause sein, vierwöchige Trainingslager in Südamerika gibt es keine mehr. Medientermine reduziert sie auf ein Minimum. Und sie bleibt locker, auch wenns mal zwei Tage nicht läuft. «Es ist ein Reifeprozess. Ich kam ja relativ früh in diesen Zirkus.»
All das trägt Früchte. Die Saison 2020/21 ist ihre erfolgreichste seit dem Gesamtweltcup. Ihre Karriere umfasst nun diese beeindruckenden Zahlen: 64 Weltcuppodeste, davon 34 Siege, acht WM- und drei Olympiamedaillen. Auch wenn die verschiedenen Epochen schwierig miteinander zu vergleichen sind – Lara Gut-Behrami klettert stetig die Leiter zu den erfolgreichsten Schweizer Skifahrerinnen hoch. Bis fast an die Spitze. Noch sitzt dort konkurrenzlos Vreni Schneider.
Als Lara Gut-Behrami 2016 die grosse Kristallkugel entgegennimmt, sagt sie: Sie wisse schon, woran sie morgen weiterarbeiten müsse. Diesen Ehrgeiz hat sie nach wie vor. Doch mittlerweile kann sie ihren Erfolg auch geniessen. Schätzen. Einordnen. Und bleibt dennoch ganz sie selbst.