Ein paar Tage ans Meer mitten in der Saison, das hat Lara Gut schon früher gemacht. Sie weiss: Die kurze Auszeit tut gut. Hat sie einen Plan im Kopf, braucht es viel, um sie umzustimmen. Denn die Tessinerin ist früh ihren eigenen Weg gegangen – und das ist in ihrem Leben Fluch und Segen zugleich. Segen, weil ihr der Erfolg recht gibt: Weltmeisterin, acht WM-Medaillen, Sieg im Gesamtweltcup, 30 Weltcupsiege. Und Fluch, weil sie diesen Weg immer erklären musste. Rechtfertigen. Und sich selber gleich dazu. Gut-Behrami polarisiert: Sie kann offen, lustig und mitreissend sein, aber auch kühl, schnippisch und verschlossen.
«Das Wort ‹Skischätzeli› hat mich immer genervt. Man hat mich vor 22 Jahren Lara getauft. Ich glaube, das reicht», sagt sie 2013 gegenüber der Schweizer Illustrierten. Sie hat nie eingesehen, weshalb sie die Erwartungen irgendwelcher Menschen erfüllen soll, will einfach schnell Ski fahren. Auf ihre Weise. Und dennoch kostet es sie viel Energie. Denn Kritik an der eigenen Person lässt sich schwer ignorieren.
Vielleicht ist es die Diskrepanz zwischen Lara Guts frühem Auftreten und dem späteren. Sie ist 16, als sie 2008 in St. Moritz über die Ziellinie stürzt, das erste Weltcup-Podest holt und mit viel Schnee im Gesicht in die Kamera lacht. Ein Jahr später gewinnt sie bereits ihre ersten WM-Medaillen, und ihre übermütige, direkte Tessiner Art bleibt hängen. An diesem Bild wird sie fortan gemessen – und getadelt, wenn sie mal nicht freundlich ist oder der Erfolg fehlt. Das macht ihr zu schaffen. Sie fragt sich, weshalb jeder ein Urteil über sie fällen darf, und fühlt sich zudem oft missverstanden. Zwar redet sie einwandfrei Schweizerdeutsch, empfindet es selber aber so, dass sie sich nicht richtig ausdrücken kann. Spricht sie Italienisch, ist sie fast ein anderer Mensch.
Es brauchte Zeit, bis sie dem Leben neben dem Ski Platz einräumte
Nach ihrem Weltmeistertitel im Riesenslalom von Cortina fährt Lara Gut-Behrami wieder ans Meer. Mit ihrem Mann Valon, 35, besitzt sie zwar ein Haus im städtischen Udine; seit er aber in Genua Fussball spielt, haben sie auch eine Wohnung an der Küste. Hier fühlt sie sich wohl, hier schaltet sie ab. Es ist wie ein Zweitleben für sie, weit weg vom Skifahren. Lange Zeit drehten sich ihre Tage nur um den Sport, ihren Ehrgeiz. Es brauchte Krisen wie langwierige Verletzungen und schliesslich die Liebe, bis sie dem Leben neben dem Skifahren auch genügend Platz einräumt. Nun zelebriert sie diesen Rückzug konsequent: keine Interviews, keine Termine, bis sie zum nächsten Rennen fährt. Social Media hat sie längst aufgegeben.
Endlich ruht sie in sich, hat die Balance im Leben gefunden. «Eine Medaille verändert das Leben einer Athletin nicht», sagt sie in Cortina, «nur ein Unfall tut es.» Hätte sie nicht Gold geholt, wäre sie abends noch der gleiche Mensch gewesen. Die Relativierung als Schlüssel zum Erfolg. Im Moment ist alles im Einklang: In Behrami hat sie die grosse Liebe gefunden; auch der Schweizer Nationalspieler hat sich in seiner Karriere oft unverstanden gefühlt. «Krieger» ist sein Spitzname, und ein bisschen trifft das auch auf seine Frau zu; man hat in der Vergangenheit das Gefühl gehabt, sie kämpfe immer gegen etwas an. Seit Valon da sei, sei das Leben schön und einfacher. Nach einigen Problemen stimmt auch das Material perfekt, die Betreuung, die Beziehung zu den Eltern.
Sie will immer bestimmen, was der jüngere Bruder tut
Dass sich das Leben so leicht anfühlt, das erlebte Lara Gut zuletzt als Kind. Lara war pflegeleicht, sagen ihre Eltern. Sie ist neugierig, geht gerne in die Schule. Hat Freude an jedem Sport, bringt sich selber Deutsch bei. Malt der Vater, der früher die Kunstakademie besucht hat, steht sie interessiert daneben, kocht die Mutter, will sie helfen. Sie will immer bestimmen, was der jüngere Bruder Ian tut. Später hilft sie ihm, Deutsch zu lernen.
Beide Eltern sind Lehrer, in den Ferien reist die Familie mit dem Wohnmobil durch Europa, macht alles gemeinsam. Auch auf der Piste. Es gibt keinen fixen Zeitpunkt, an dem aus Plausch Ernst wird, auch dann nicht, als die Guts ihren eigenen Skiklub gründen, Sporting Gottardo. Lara hat Freude am Skifahren und gewinnt alles. Einmal zimmern sie sich im Sommer auf einem Gletscher eine Holzhütte und fahren dort zehn Tage lang Ski.
Vater Pauli ist der Trainer, sie machen alles selbst. Und das gut, wie der frühe Erfolg im Weltcup zeigt. Das Team zieht aber auch Experten bei, Karl Frehsner etwa, und diese sind beeindruckt vom Teenager. Nicht nur vom Talent. Sondern wie sich Lara einen Plan zurechtlegt, nicht von ihrer Linie abweicht, wie eigenständig sie ist. Und weitermacht, wenn sie sich wieder mal den Kopf anschlägt. Mit Druck kommt man bei ihr nicht weiter, mit «Ich würde es so machen» schon eher. Das ist heute noch so. Dennoch hat sie ein Stück ihrer Beratungsresistenz abgelegt – ein weiteres Puzzleteil.
Damals aber wird mit diesen ersten Erfolgen im Weltcup alles anders. Was sich bisher so einfach und natürlich angefühlt hat für die Familie, ist auf dieser Stufe nicht mehr möglich. Als Skifahrerin im Weltcup ist man in den Verband integriert, trainiert und reist zusammen. Das ist ungewohnt für Gut. «Ich habe instinktiv immer gemerkt: Ich mache das lieber alleine», sagt sie ein paar Jahre später. Das stösst intern nicht nur auf Verständnis. «Ich habe mich immer wie eine Aussenseiterin gefühlt.» Deswegen stemmt die Familie weiterhin ein eigenes Team, engagiert Trainer, macht vieles selbst.
Ein eigener Weg und zeitweise Zoff mit dem Verband – damit ist Gut-Behrami unter den Top-Skifahrern eher die Regel als die Ausnahme. Bode Miller, Janica Kostelic, Tina Maze, Marcel Hirscher: Sie alle gehörten zu den absolut Besten. Von ihnen fühlt sich Gut immer verstanden, und das nicht nur wegen der sportlichen Speziallinie: Auch sie eckten an, waren eigenwillig, fordernd, egoistisch auch. Wurden bewundert, aber auch kritisch beäugt. Ganz sicher keine Schätzelis ihrer Nationen. Wollten das auch nie sein. Und wieso auch?
Weshalb können wir uns nicht freuen, Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten als sportliche Idole zu haben? Statt von allen neben dem sportlichen Grosserfolg Federer’sche Bescheidenheit und Perfektion zu erwarten, damit wir sie lieben können? Bei Lara Gut-Behrami liegt der Vergleich mit Martina Hingis während ihrer Karriere nahe – sportlich brillant, aber mit ihrer eigenwilligen Art uns Schweizern einfach nicht ganz geheuer.
Offener Brief nach der schweren Verletzung
Lara Gut-Behrami hat in ihrer Karriere viele Höhen und Tiefen erlebt. Sie musste sich erklären, wenn sie bei einer Bronzemedaille weinte, obwohl ihr Ziel doch Gold war. Sie schwieg, weil sie dachte, wenn sie nicht rede, könne sie auch nicht missverstanden werden. Sie bat darum, dass man nicht zu harsch über sie urteile, als sie sportlich eine schwache Phase hatte. Sie zog sich zurück, als sie sich schwer verletzte, weil ihr alles zu viel wurde. Danach wandte sie sich mit einem Brief an die Medien und legte ihre Gefühle offen.
Es dauerte nach dem Kreuzbandriss 2017 Jahre, in denen auf der Piste nicht alles zusammenpasste. Und nun hat man sie nach dem Riesenslalom-Weltmeistertitel so ausgelassen und freudig gesehen wie schon lange nicht mehr. Sie hat ihren Frieden gefunden. Vielleicht ist es an der Zeit, dass es auch die Schweiz mit ihr tut.