Einen Schluck Champagner gabs nicht, der war schon alle. Und für einen Schnaps waren sie zu müde. Doch als Laurien van der Graaff, 33, und Nadine Fähndrich, 25, nach Siegerehrung, Corona- und Dopingtests zurück ins Stadion kommen, hat dort ihr Team bereits den Grill angeschmissen, um die Medaille zu feiern. WM-Silber – die erste Langlauf-Medaille für Schweizer Frauen seit Evi Kratzer 1987. «Die Emotionen des ganzen Teams mitzubekommen, war mega schön», sagt Fähndrich.
Als gleichzeitig die doppelte und die halbe Verantwortung bezeichnen die beiden den ungewohnten Teamsprint in einer Einzelsportart. Ganz sicher nun aber «die doppelte Freude». Dass die beiden mit ihren unterschiedlichen Karrieren auch Freundinnen geworden sind, macht die Geschichte umso schöner. Das gute Verhältnis kann man spüren: Am Tag nach der Medaille
sind sie aufgekratzt und lachen viel im Videointerview, als sie erzählen, wie sie sich einander über die letzten Jahre angenähert haben.
Die erste Begegnung fand im selben Hotel in Oberstdorf statt, wo sie jetzt während der WM untergebracht sind. Van der Graaff traf im Trainingslager auf das Juniorenteam um Fähndrich, «sie waren eine richtige Girlie-Group», erinnert sich die Ältere: «Das Zimmer war voll mit Stylingprodukten, im Bus drehten sie die Musik auf und sangen mit.» Lustig sei das gewesen und ungewohnt für sie. Zum ersten Mal das Zimmer teilten sie dann am Weltcup in Planica 2016 beim ersten gemeinsamen Teamsprint. «Ich hab den Wettkampf versaut», erinnert sich Fähndrich, «und hatte Angst, dass Laurien wütend auf mich ist.» Das war aber nicht der Fall, im Gegenteil: «Gerade in den ersten Jahren hat sie mir mit ihrer Erfahrung viel geholfen und Tipps gegeben.»
Van der Graaff liest zwei Bücher pro Woche
Ohnehin sei die Ältere sehr hilfsbereit, motivierend und immer da für ein Gespräch. Dass sie sehr zielstrebig und organisiert sind, verbindet die beiden. Ansonsten reist Fähndrich gerne, verbringt Zeit mit der Familie. Van der Graaff interessiert sich für Kunst und liest zwei Bücher pro Woche. Was sie an der jüngeren Kollegin schätzt: ihre Ehrlichkeit, Loyalität und Selbstironie. «Ich finde es super, wenn man über sich selbst lachen kann.»
«Nadine ist ehrlich, loyal und selbstironisch. Das finde ich super»
Laurien van der Graaff
Dass die 33-jährige Davoserin van der Graaff überhaupt lachend eine Medaille um den Hals trägt, ist keine Selbstverständlichkeit. Vor zwei Jahren stand sie nach der Saison kurz vor dem Rücktritt. Sie war ausgebrannt, hatte nach zwei Weltcupsiegen in der Saison 2018 einen solchen Erfolgshunger, dass sie noch mehr machen wollte. Zu viel. Sie trieb ihren Körper so über die Grenze, bis sie keine Energie mehr hatte. Während des Winters 2019 hatte sie bereits eine dumpfe Müdigkeit gespürt, im Frühling dann kam der «Fall ins Bodenlose».
Der Sommer ist ein Auf und Ab, doch sie schafft es durch die dunkle Zeit. «Ich habe mich irgendwann selber wiedergefunden. Das Spielerische, die Freude von früher. Ich musste lernen, die Dinge lockerer zu sehen. Zu relativieren», sagt die studierte Sportwissenschaftlerin und Biologin ein halbes Jahr später. Und diese Freude, dieses Leben im Moment ist ihr geblieben.
Fähndrich mit ein Grund, weshalb Laurien wieder näher am Team ist
Ob sie weitermacht – in einem Jahr sind die Olympischen Spiele in Peking –, darüber möchte die schweizerisch-holländische Doppelbürgerin in diesem Moment des Triumphs nicht nachdenken. Zu sehr geniesst sie die ersehnte Medaille, denn der Weg an die Weltspitze war für van der Graaff lange. Nicht immer war das Verhältnis zu Swiss-Ski gut, seit Jahren trainiert sie viel mit ihrem eigenen Privatteam, um die bestmöglichen Bedingungen zu haben; ihr Lebenspartner Andreas Waldmeier ist auch ihr Trainer. Als aufstrebende Athletin hat ihr bei Swiss-Ski eine Person gefehlt, von deren Erfahrung und Klasse sie hätte profitieren können – da war niemand. Heute ist van der Graaff aber wieder näher ans Team gerückt, und Fähndrich ist mit ein Grund dafür
«Laurien ist hilfsbereit, motivierend und immer für einen da»
Nadine Fähndrich
Die Luzernerin aus Eigenthal hat den regulären Verbandsweg beschritten und ist mittlerweile eine komplette Weltklasse-Langläuferin geworden. Den letzten Schritt an die Spitze hat sie in den letzten Jahren vor allem auch im Kopf gemacht. Nach schlechten Rennen fing die Kauffrau früher an zu grübeln, fühlte sich schlecht, konnte das Resultat nicht gut abhaken. Mentaltraining hat sie da entscheidend weitergebracht, ihr Selbstvertrauen gegeben.
Wiederauferstehung nach der Enttäuschung
An der WM in Oberstdorf nun hat die Langläuferin, die mit ihrem Freund Elvis im Baselbiet wohnt, aber nochmals ein Tief bewältigen müssen – und zwar schnell. Im Einzelsprint wurde sie 33. «Es war das erste Mal, dass ich eine solche Enttäuschung erlebte», sagt sie. «Da hat mir Laurien gut geholfen. Sie ist sehr ruhig geblieben, sicher, hat mich unterstützt. Das ist das Gefühl, das ich am Renntag gebraucht habe.» Und dann legte sie in der letzten Runde zum Supersprint an – dem Sprint zum Silberglück.