Die Wohnraumknappheit in der Stadt Zürich treibt mitunter seltsame Blüten. So hat Lea Lu, 36, von der kleinen Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung, die sie vor gut zwei Jahren bezog, im Voraus nie ein Foto gesehen – geschweige denn die Wohnung besichtigt. Es gab nur einen Grundriss zu begutachten. Ein Experiment, das gründlich hätte schieflaufen können. Ist es aber nicht. Im Gegenteil: Die Musikerin fühlt sich mehr als wohl in ihrem «Zwergenschiff», wie sie die kleine Bleibe im fünften Stock eines Wohnblocks mitten in der Limmatstadt nennt. «Ich fühle mich hier oben ein bisschen wie in einem Schiff, mit Weitsicht über die Dächer statt aufs Meer», erklärt sie. Die Wohnung teilt Lea mit ihrem Freund, den sie aus der Öffentlichkeit heraushält.
Dass ihr aktuelles Album «I Call You» in diesen Räumen entsteht, war eigentlich nicht geplant. Anfang 2020 ging Lea Lu mit einem Stipendium der Stadt Zürich in der Tasche nach New York. Inspiriert vom Big Apple wollte sie dort ihre Songs schreiben. Das Abenteuer dauerte ganze neun Tage. «Plötzlich war die Stadt wie ausgestorben, man hörte nur noch Sirenen. Wie in einem Katastrophenfilm», erzählt Lea. Dank ihrem Bruder, der bei der Swiss arbeitet, erwischte sie kurz vor dem Lockdown einen der letzten Flüge zurück in die Schweiz. Nun galt es, das Beste aus der Situation zu machen. Die komponierten Lieder wurden zwischen Zürich, Nizza, London und Los Angeles hin- und hergeschickt. Aufgenommen wurde das Album schliesslich in einer Alphütte im Jura – wohl so weit weg von der pulsierenden US-Metropole, wie es nur ging. «Aber irgendwie wars trotzdem total richtig so», erzählt Lea Lu. Erschienen ist das Werk bei ihrer eigenen Plattenfirma. «So habe ich mehr künstlerische Freiheit, aber auch viel mehr Arbeit», sagt Lea, die sich auch selbst managt.
Ein Novum auf dem Album: Lea Lu spielt teilweise selbst Bass. Das hat die Multi-Instrumentalistin – genau wie einst Klavier und Gitarre – sich während des Lockdowns selber beigebracht. «Den Bass habe ich mir von einem Freund geliehen. Er hat ihn nicht wieder zurückbekommen», erzählt sie grinsend. Obwohl Proberaum und Aufnahmestudio gerade um die Ecke liegen, hat Lea Lu beides sozusagen im Mini-Format auch zu Hause. «Wenn man im fünften Stock ohne Lift wohnt, überlegt man sich sehr genau, wofür man das Haus verlässt», meint sie lachend. So entstehen Song-Ideen und Liedtexte oft an ihrem Lieblingsplatz am winzigen Küchentisch. Am liebsten bei einem Tee, für den Lea eine grosse Passion hegt. Unzählige Oolong-Tees besitzt sie, und nicht alle sind zum sofortigen Genuss bestimmt. «Man lagert sie, und sie reifen wie guter Wein.»
Ebenfalls gut in der Wohnung sichtbar ist die Leidenschaft fürs Reisen von Lea Dudzik – so ihr richtiger Name. «Ausser den grossen Möbelstücken habe ich fast alles hier drin von Reisen mitgebracht.» Kissen aus Indien, Vasen aus Paris, Keramiktassen aus Kambodscha, kleine Gläser aus Nizza. «So fühle ich mich auch zu Hause mit der ganzen Welt verbunden.» Eine Sammlerin ist Lea allerdings nicht: Wann immer etwas Neues hinzukommt, muss etwas Altes weg. «Sonst wird es hier bald einmal zu eng. Zumal es keinen Keller und nur einen Mini-Estrich gibt.»
Das langsam wieder aufkommende Fernweh stillte Lea vor einiger Zeit mit einem Trip nach Griechenland, wo die Fotos für «I Call You» entstanden. Das Album gibt es nur auf Vinyl und zum Downloaden, nicht als CD. Den Downloadcode kann man unter anderem auf einer biologisch abbaubaren Seife erstehen. Und wenn nicht wieder etwas dazwischenkommt, gehts nächstes Frühjahr über den grossen Teich: Lea Lu darf ihre sechs Stipendienmonate in New York nachholen. Was sie dort macht, jetzt, wo das Album bereits im Kasten ist? «Komponieren. Schreiben. Zeichnen. Mir fällt sicher etwas ein.» Dass Lea Lu nicht nur neue Souvenirs für ihre Wohnung mit aus den USA bringt, sondern auch viel Kreatives – daran besteht kein Zwiefel. Man darf gespannt sein, was 2022 bringt.