Es ist kalt an jenem Sonntagabend des 30. Januars 2010, als Irina Lucidi, 44, einen Polizeiposten in Lausanne VD betritt. Die Rechtsanwältin und Mutter von sechsjährigen Zwillingsmädchen ist beunruhigt: Sie hat keine Nachricht von ihren Töchtern Alessia und Livia! Ihr Mann, von dem sie seit einem halben Jahr getrennt lebt, hätte die Kinder zurückbringen sollen, nachdem er sie fürs Wochenende bei sich hatte. Er hat seine Frau aber am Nachmittag per SMS wissen lassen, er werde die Töchter am nächsten Morgen direkt zur Schule bringen. Darauf fährt sie umgehend zu seiner Villa in St-Sulpice VD. Da steht sein Auto nicht in der Garage, doch die beiden Stofftiere Casimir und Mathilda sind noch da, ohne die Alessia und Livia nie weggingen.
Livias Mann Matthias Schepp, 43, ist keiner, der etwas vergisst, der Ingenieur denkt rational. Und kümmert sich stets liebevoll um seine Töchter. Sechs Wochen zuvor hat sich das Ehepaar getrennt, vor zwei Tagen hat Irina ihm mitgeteilt, dass sie sich scheiden lässt.
Die Polizei nimmt die Vermisstenanzeige auf, schreibt Schepps schwarzen Audi A6 zur Fahndung aus. Um Mitternacht sind die Genfer Kantonspolizei und die Zollstellen nach Frankreich informiert, wenig später geht der landesweite Alarm raus. In St-Sulpice und Umgebung kontrollieren Polizisten Parkings, Hotels und vier Boote von Schepps Arbeitgeber Philip Morris – der in Ettingen BL aufgewachsene gebürtige Kanadier ist ein begeisterter Segler.
In Matthias Schepps Villa finden die Beamten dessen Testament. Darin hat er am 27. Januar geschrieben, was nach seinem baldigen Tod zu tun sei: «Meine Kinder Alessia und Livia erhalten das Erbe in zwei gleichen Teilen.» Um 3.31 Uhr wird sein Handy in Frankreich nahe der Schweizer Grenze geortet. Eine fünftägige Verfolgungsjagd beginnt, mit Beamten in halb Europa, die Strafanzeige lautet auf Entführung und Kindesraub.
Der Polizei ist Schepp stets einen Schritt voraus. Am 31. Januar bezieht
er Geld an einem Automaten in Marseille (F), schreibt seiner Frau eine Postkarte: «Ich kann ohne dich nicht leben – ich vermisse dich.» Dann nimmt er die Fähre nach Korsika. An Bord werden die drei gesehen! Auf der Insel verliert sich dann die Spur der Mädchen.
Schepp reist nach Süditalien weiter, in Bari schickt er seiner Frau Briefe mit 4400 Euro. «Du wirst die Kinder nie mehr sehen, sie ruhen an einem friedlichen Ort. Sie haben nicht leiden müssen.» Am 3. Februar wird im süditalienischen Cerignola Schepps Leiche gefunden: Er hat sich vor den Schnellzug Mailand–Bari geworfen.
Wo sind die Zwillinge? Die Frage quält Mutter Irina und die ganze Schweiz. Hat der Vater seine Töchter auf der Überfahrt nach Korsika über Bord geworfen? Hat er sie noch in der Schweiz getötet? «Operation Zwillinge»: Dutzende Polizeikräfte fahnden nach den Mädchen, der Genfersee wird abgesucht. In Morges VD sagt ein Zeuge, am Ufer eines Gewässers einen Mann mit einem schweren Koffer gesehen zu haben.
Eine grosse Suchaktion mit Hunden startet. Verzweifelt richtet Mutter Irina Hilferufe an die Bevölkerung: «Meine Kinder müssen gefunden werden, koste es, was es wolle!» Die Polizei bekommt Meldungen aus der ganzen Welt: Einmal sollen die Zwillinge in Thailand gesichtet worden sein, im Europa-Park Rust (D), in einem Roma-Camp auf Korsika. Bei einem TV-Interview beschreibt Lucidi ihren Mann
als «pervers narzisstisch» und als Kontrollfreak.
Monate vergehen, Jahre. Ein Kind zu verlieren, ist das Schlimmste für Eltern. Doch die Mutter von Alessia und Livia plagen unablässig dieselben Fragen: Leben meine Töchter noch? Leiden sie? Matthias Schepp hat alles unternommen, die Witwe für immer leiden zu lassen. Perfide Liebe!
Doch Lucidi findet die Kraft, Missing Children Switzerland zu grün-
den – im Oktober 2011, am Geburtstag ihrer Zwillinge. «Das ist das Einzige, was ich tun kann, um nicht selber zu sterben», sagt sie damals. Die Stiftung unterstützt Eltern, deren Kind vermisst wird. «Das Schicksal meiner Töchter soll nicht umsonst sein. Nicht jedes Drama muss so enden wie das unsrige.»
Zehn Jahre sind es her, dass Alessia und Livia entführt wurden. Jetzt, aus Anlass des traurigen Jahrestags, will sich die Mutter nicht öffentlich äussern. Die Stiftungsdirektorin Lucie Zimmitti: «Die Mutter von Alessia und Livia wird nicht aufhören, sie zu suchen, bis ihre Körper gefunden worden sind.» Die Mutter gibt die Hoffnung nicht auf.
Das strafrechtliche Dossier wird 2017 ad acta gelegt. Doch Karim Hamouche beschäftigt sich bis heute mit den Zwillingen – der Hauptkommissar bei der Waadtländer Kantonspolizei kümmert sich seit dem Tag der Entführung um den Fall. Allein 2020 hat er sieben Hinweise bekommen, fünf von der Stiftung. Hamouche und sein Kollege Jean-Marc Blaser sind jedem nachgegangen – vergeblich. 2200 Informationen, 200 davon von Menschen, die sich als Medium bezeichnen, hat die Polizei seit der Entführung behandelt.
2012 schickt ein Mann das Bild von einem Mädchen, das er bei Barcelona in einem Hotel fotografiert hat – er glaubt, es sei Livia. Drei Waadtländer Polizisten fliegen nach Spanien, finden das Mädchen. Blaser: «Es hatte wirklich grosse Ähnlichkeiten mit Livia.» Für die Mutter platzt wieder eine Hoffnung.
Im Sommer 2018 macht ein Waldarbeiter bei Morges eine seltsame Entdeckung – in dem Gebiet, das Jahre zuvor abgesucht worden war. In einem Baumstamm, der lange unter Wasser gelegen hatte, sind drei Buchstaben eingekerbt: M, L und A. Sind es die Initialen des Vaters und der Zwillinge? Ein Mini-Trax gräbt eine Fläche von 300 Quadratmetern um, wieder kommen Taucher zum Einsatz. Sie finden nichts.
Dieser Entführungsfall habe trotz allem etwas bewirkt, sagt Kommissar Hamouche. «Er hat uns gelehrt, bei der Befragung betroffener Eltern noch genauer nachzufragen.» Auch in Zukunft werden Hamouche und seine Kollegen jedem Hinweis, der zu Alessia und Livia führen könnte, akribisch nachgehen. «Das sind wir ihrer Mutter schuldig.»
Bearbeitung: Thomas Kutschera