Sie ist die Frau für alle Fälle, die Königin der Schweizer Leichtathletik. Sie bewegt sich mit ihrer Disziplin in einem Bereich, in dem die Leistungen zu Mythen und Legenden werden. Annik Kälin, 22, ist die beste Siebenkämpferin, die der Schweizer Verband je hatte – und sie katapultiert sich in dieser Saison in neue Sphären: Ende April verbesserte sie in Italien beim Meeting in Grosseto ihre eigene Bestleistung auf den neuen Schweizer Rekord von 6398 Punkten. Und Mitte Juli erreichte sie an den Weltmeisterschaften in Eugene mit phänomenalen 6464 Zählern den sechsten Platz. «Eine Punktlandung», sagt sie.
Kommende Woche wartet mit den Europameisterschaften in München der nächste Höhepunkt auf die Bündnerin aus Grüsch. Und dafür nimmt sie auf der neuen Sportanlage in Landquart Mass. Immer an ihrer Seite: Vater Marco, 52. Hauptberuflich ist er Arzt – «Landarzt», wie er lachend sagt. Im Nebenamt betreut er seine Tochter und feilt mit ihr an den technischen Finessen in den so unterschiedlichen Disziplinen. Im Siebenkampf gewinnt jene Athletin, die über 100 Meter Hürden, im Hochsprung und im Kugelstossen, über 200 Meter sowie im Weitsprung, Speerwurf und über 800 Meter am meisten Punkte erreicht. «Konstanz ist dabei ganz wichtig», so Marco Kälin.
Das Familienmodell erstaunt umso mehr, als dass Marco in der Leichtathletik ein Quereinsteiger ist und sich das Wissen aneignen musste: «Ich habe bei den Besten genau hingeschaut und immer wieder ihre Bewegungsabläufe studiert.» Die Tochter sieht genau darin einen Vorteil: «Wir sind quasi zusammen gewachsen, haben alles gemeinsam erarbeitet – und dabei vieles richtig, aber wohl auch einiges falsch gemacht.» In den Videoanalysen sehe man jeweils deutlich, wo Optimierungspotenzial bestehe, so Annik. Anfangs habe ihr eigenes Bild von sich mit jenem in den Videoaufnahmen oft nicht übereingestimmt. Mittlerweile passe es aber immer besser.
Dies ist insofern nicht selbstverständlich, als die Bündnerin auf schwierige Zeiten zurückblickt. Nach hartnäckigen Rückenbeschwerden hatte sie fast ein Jahr lang pausieren müssen. So besass sie zu Beginn dieser Saison kaum einen Anhaltspunkt zu ihrem Formstand. Umso glücklicher ist sie mit ihrer Situation mit Blick nach München: «Ich starte aus einer lässigen Position zur EM. Der Druck liegt nicht bei mir. Ich kann völlig unbeschwert an den Start.»
Annik Kälin fand eher zufällig zum Mehrkampf. Wie ihre Geschwister Corinne, 21, und Dario, 18, probierte sie in ihrer Kindheit diverse Sportarten aus. Als sie mit elf Jahren am UBS Kids Cup im Dreikampf aus 60-Meter-Sprint, Ballwurf und Weitsprung den (national) dritten Platz belegte, habe sie realisiert, dass etwas möglich sei. Dass sie in jener Zeit immer zu den Kleineren gezählt habe, erachtet sie heute als Vorteil: «Ich musste meine Leistungen über die Technik bringen. Davon profitiere ich auch heute noch.» Mit 171 Zentimetern gehört sie nicht zu den Riesinnen in ihrem Sport: «Vier von fünf Athletinnen sind über 1,80», sagt sie. In einer so komplexen Disziplin gehe es aber vor allem darum, die physische Balance zu finden: «Kraft ist wichtig, aber zu viel Masse schadet.»
«Ich starte aus einer lässigen Ausgangslage. Der Druck liegt nicht bei mir»
Annik Kälin
Das theoretische Wissen bringt Kälin auch aus ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin mit: «Es war mir stets wichtig, dass ich neben dem Sport etwas anderes habe.» Das helfe ihr, den Kopf frei zu bekommen. Bei einem wöchentlichen Trainingsaufwand von bis zu 20 Stunden ist gedankliche Abwechslung nicht zu unterschätzen. In München wird sich Annik Kälin aber ganz auf ihre sportliche Kernkompetenz konzentrieren. Dabei kann sie auf den grösstmöglichen familiären Support zählen: «Auch meine Mutter, Geschwister, Grosseltern und andere Verwandte werden im Stadion sein.» Kälin denkt, dass sie in jeder Disziplin Steigerungspotenzial besitze. Gleichzeitig weiss sie, dass die Konkurrenz ähnlich stark ist wie an der WM: «Die Weltmeisterin Thiam stammt aus Belgien. Und auch sonst ist der Siebenkampf europäisch dominiert.»
Kälin aber muss sich nicht verstecken. Umso erstaunlicher ist es, dass sie bisher praktisch keine Sponsorenanfragen erhielt. Unterstützung bekommt sie von der Sporthilfe, vom Verband, von der Gemeinde Grüsch und von Ausrüster Puma – sonst hat sie aber keine Partner. Darin sieht sie auch etwas Gutes: «Ich habe keine Verpflichtungen und kann mich ganz auf den Sport konzentrieren.» Es ist allerdings davon auszugehen, dass sich dies bald ändern wird. Eine Athletin, die auf allen Bühnen Grenzen verschiebt, wird eher früher als später die grosse Werbeplattform erobern.