Lena Georgescu, 21, entspricht so gar nicht dem Klischee des Schachspielers. Junge Frau statt alter Mann. Adrette Erscheinung statt ungepflegtes Äusseres. Offenes Auftreten statt Ignoranz gegenüber ihrer Umwelt. Die Bernerin ist eine von wenigen Top-Spielerinnen. In der Schweiz Nummer 1 bei den Frauen: Schweizer Meisterin von 2017 und amtierende Vize-Schweizer-Meisterin. Sich damit zu brüsten, ist nicht ihre Art.
Schach spielen gelernt hat sie von ihrem Vater. Der gebürtige Rumäne war in den 1990er-Jahren in die Schweiz gekommen, leitet heute eine psychiatrische Klinik. Lenas Mutter, eine Schweizerin, ist Sozialwissenschaftlerin und im Justizvollzug beschäftigt.
Lena ist neun, als sie im Schachklub Bern angemeldet wird. Dort erkennt man ihr Talent und rät den Eltern, das Kind zu fördern. «Aber meine Mutter und mein Vater sind das Gegenteil von so überehrgeizigen Eltern, wie man sie im Spitzensport oft beobachten kann.» Ihre Maturaarbeit trägt denn auch den Titel: «Die Bedeutung der Eltern für die Schachkarriere ihres Kindes». Lena wäre selbst gern Schwimmerin geworden – oder Kunstturnerin. Doch Schule geniesst Priorität in der Familie – auch bei ihrem 17-jährigen Bruder. Dennoch erhalten beide Kinder Unterstützung. «Meine Mutter begleitet mich an Turniere – etwa nach London. Während ich spiele, schaut sie sich die Stadt an.»
Ein Jahr tingelt die Schweizerin als Profispielerin um die Welt. «Doch das war etwas zu viel für mich. Ich spiele wirklich gern Schach. Aber wenn ich nichts anderes mache, habe ich eine zu hohe Erwartungshaltung an mich.» Plötzlich habe man ihrem Spiel angesehen, «dass ich zu verbissen bin». Seit drei Semestern studiert Lena nun Informatik und Mathematik an der Uni Bern. «Das ist Zufall, mich interessierte sonst nichts.» Der Schachleidenschaft widmet sie bis zu drei Stunden täglich. «Es fasziniert mich, dass ich nie auslerne, stets andere Möglichkeiten sehe und am Ende einer Partie jedes Mal aufs Neue erstaunt bin.»
Auf ihrem Smartphone hat Lena 15 Schach-Apps. Ihre Bildschirmzeit gibt sie nicht preis: «Zu hoch!» Was der- zeit Corona geschuldet sei. Mit Schach beschäftige sie sich jeden Tag. Ob beim Lesen von Nachrichten zum Thema, ob beim Blättern in den zig Büchern in ihrem Regal. Teilweise träumte sie sogar von Schach. «Meist schlechte Träume: mein Handy, das in einer Partie losklingelt und nicht mehr aufhört, oder dass ich gegen bestimmte Leute verliere.»
Den Netflix-Filmhit «The Queen’s Gambit» hat sie selbstverständlich gesehen. Ihr Urteil: «Gut gemacht!» Das im Spiel häufig gezeigte «Damengambit» sei eine der meistgespielten Eröffnungen, wobei es verschiedene Varianten gebe. Auch Lena überrascht damit immer wieder einmal ihre Gegner.
Kürzlich spielte sie an einem gemischten Turnier in Dänemark. Den Männern dort konnte sie zwar nicht das Wasser reichen, es spornt sie aber weiter an. «Ich werde nur besser, wenn ich auch gegen Männer spiele.» Einen guten Trainingspartner hat sie; ihr dänischer Freund ist ebenfalls Schachprofi. Er ist der Grund, warum sie ihre Nase derzeit nicht nur in Schachbücher steckt, sondern Vokabeln paukt. «Ich lerne Dänisch. Es ist sonst frustrierend, wenn ich bei ihm und seiner Familie bin, aber nichts verstehe.» Während des ersten Lockdowns vergangenes Frühjahr war sie längere Zeit in Dänemark. Das Paar sieht sich häufiger an Turnieren – oft irgendwo in Europa. «Wir Schachspieler sind halt irgendwie umherziehende Vagabunden.»