Mit ihren blauen Augen, den pinkroten Flecken und der Greifzange, die an einen Schnabel erinnert, sieht Lia ziemlich gmögig aus. Sogar ein Herzchen pulsiert auf dem Touchscreen auf ihrem Unterbau. «Hallo, meine Liebe», sagt Anna Bettler (78) und drückt Lia auf ihren mit Kunstleder gepolsterten Kopf.
Der etwa 1,2 Meter grosse Roboter steht vor dem Bett der Patientin in der Rehaklinik Zihlschlacht im Kanton Thurgau, die auf die Behandlung von hirn- und nervenverletzten Menschen spezialisiert ist. «Hallo, was kann ich für Sie tun?», antwortet Lia, und der Bildschirm wechselt vom Herzmodus zu einer Auswahl: Witz oder Unterhaltung. «Erzähl mir einen Witz», sagt Bettler. Lia antwortet nicht. «Manchmal ist sie etwas schwerhörig», sagt die Patientin und lacht.
Während Pflegefachfrau Madeleine Kruger Reha-Patientin Anna Bettler den Puls misst, wartet Lia mit der Wasserflasche.
Kurt ReichenbachVor rund sechs Jahren hat die Rehaklinik Zihlschlacht mit Lio den ersten Roboter als Unterstützung für die Pflegefachkräfte eingesetzt – im vergangenen Jahr kam mit Lia ein zweiter dazu. «Ihre Hauptaufgabe besteht darin, Botengänge zu machen», sagt Pflegefachfrau Madeleine Kruger (32). Meist handelt es sich dabei um Laborproben, welche die beiden Roboter in der grauen Kiste auf ihrem Rücken von A nach B fahren. Oder sie holen am Morgen das frische Brot und die Zeitungen beim Empfang ab und bringen sie dem Personal.
«Bei Lio klappen die Botengänge schon zuverlässig. Er ist erfahrener, weil er schon länger bei uns ist. Lia müssen wir eng begleiten und kontrollieren, sie ist unsere Praktikantin», sagt Kruger und lacht. 120 Kilometer haben Lio und Lia seit letztem Herbst zurückgelegt. «Das ist für uns natürlich eine Entlastung», sagt die Pflegefachkraft. Gerade etwa während Corona, als Lio jede Nacht alle Türklinken desinfizierte.
«Danke für die Zeitung, Lia!» Neben Laborproben bringen die Roboter auch mal das Brot oder Lesematerial.
Kurt Reichenbach«Roboter, der Menschen hilft»
30 Lios und Lias sind zurzeit in der Schweiz und in Deutschland im Einsatz – in Pflegeheimen, Rehakliniken, Labors und an Fachhochschulen und Universitäten. Entwickelt, zusammengebaut und programmiert werden sie von F&P Robotics in Glattbrugg ZH in einem unscheinbaren Bürokomplex. Gegründet hat die Firma 2014 Hansruedi Früh, ein Pionier der künstlichen Intelligenz und Robotik. Der gebürtige Thurgauer wuchs auf einem Bauernhof auf, machte dann den Doktor in Neurobiologie an der Uni Zürich. «Seine Vision war immer, Roboter zu entwickeln, die Menschen helfen», erzählt sein Sohn und heutiger CEO Michael Früh (40) beim Firmenrundgang.
2016 brachte die Firma mit dem Vater-Sohn-Gespann den kollaborativen und gepolsterten Roboterarm P-Rob auf den Markt. Basierend auf dessen Technik, folgte 2019 der Assistenzroboter Lio. Vor vier Jahren verstarb Hansruedi Früh unerwartet an den Folgen einer Coronaerkrankung mit 64 Jahren. «Ich möchte seine Vision weiterführen. Unsere Roboter sollen dem Personal ermöglichen, sich wieder mehr auf die menschliche Seite der Arbeit zu konzentrieren », sagt Früh. F&P Robotics liefert auch Roboter in die Industrie – Anfragen aus der Rüstungsbranche lehnt die Firma allerdings konsequent ab.
Michael Früh (l.), CEO von F&P Robotics, setzt in Glattbrugg ZH mit Verkaufsleiter Albino Miglialo die Vision seines verstorbenen Vaters um.
Kurt Reichenbach«Wir verstehen, dass es im Zusammenhang mit Robotern oft zu Ängsten kommt», sagt Verkaufsleiter Albino Miglialo (42). Studien hätten etwa gezeigt, dass zu menschenähnliche Roboter bei den Leuten sofort ungute Gefühle auslösen. Deshalb kommen Lia und Lio auch wie Comicfiguren daher – oder wie «lustige Wesen», wie Patientin Anna Bettler in der Rehaklinik sagt.
Potenzial noch nicht ausgeschöpft
Meist um die Mittagszeit, wenn die Roboter am Laden sind, können Patientinnen und Patienten mit ihnen in Kontakt kommen. Die Kommunikation mit Lio und Lia funktioniert über ihren Kopf. Ihn einmal herunterzudrücken, bedeutet: «Ja» oder «Okay». Den Kopf zur Seite zu schieben, heisst: «Nein». Die Roboter sprechen 20 Sprachen und lernen dank künstlicher Intelligenz laufend dazu. Je nach Programmierung können sie Witze oder Geschichten erzählen oder Musik abspielen. «Die meisten finden die Roboter unterhaltsam und sehen sie als willkommene Abwechslung im Klinikalltag», sagt Pflegefachfrau Kruger.
Künftig sollen Lio und Lia noch viel mehr Kilometer zurücklegen, als sie es heute tun.
Kurt ReichenbachAllerdings sei das Potenzial der Roboter noch nicht genügend ausgeschöpft, sagt Rehaklinik-Geschäftsführerin Michèle Bongetta: «Momentan können Lio und Lia noch nicht Lift fahren, sprich ein grosser Teil der Klinik ist für sie nicht zugänglich.» Dies zu ermöglichen, da sei man zusammen mit den Entwicklern von F&P Robotics dran. «Ziel wäre, Lio und Lia 24 Stunden nutzen zu können.» Dadurch könnten die Roboter viel mehr Kilometer zurücklegen und auch Arbeiten in der Nacht erledigen, zum Beispiel Wäsche herumfahren.
Die Robotik habe eine lange Tradition in ihrer Rehaklinik, sagt Bongetta: «Wir gehörten vor mehr als 15 Jahren zu den Ersten, die in der Therapie Roboter einsetzten. Damals glaubten die wenigsten daran – heute sind beispielsweise Gehroboter Standard.»
ETH-Maschinenbau-Absolvent Jaro Fitze testet die Gelenkmotoren. Programmiert wird ebenfalls alles von Hand.
Kurt ReichenbachBei F&P Robotics ist man überzeugt, dass Roboter als Assistenten eine grosse Zukunft vor sich haben. «Von 2023 auf 2024 verdoppelten wir unseren Umsatz und wollen weiter wachsen», sagt Michael Früh. Auch Investoren wie Unternehmer Guido Fluri würden an das Potenzial glauben – gerade auch, weil sich der Fachkräftemangel weiter verstärkt.
80 Prozent an Lio ist Handarbeit. F&P Robotics beschäftigt rund 40 Mitarbeitende aus über 15 verschiedenen Nationen.
Kurt ReichenbachEmpathie nicht ersetzbar
Bedenken, dass Roboter das Pflegepersonal ersetzen, hat Klinikleiterin Bongetta keine. «Ein Roboter wird niemals die Arbeit und Empathie der Fachkräfte ersetzen können.» Oder wie es Patientin Anna Bettler formuliert: «Nur weil Lia mich mit ihren blauen Augen so nett anschaut, lasse ich mir von ihr noch lange nicht den Puls messen.»
70 Kilo schwer ist der Roboter, circa 60 Zentimeter breit und 1,2 Meter hoch.
140'000 Franken kostet Lio oder Lia im Starterkit. Dazu gehören auch die Wartung und der Service während drei bis vier Jahren.
14 Tage dauert es, bis Lio oder Lia zusammengebaut ist. Der Roboter besteht aus über 500 Komponenten.