Henriette Engbersen lebt gleich ums Eck von Londons berühmtem kulturellem Hotspot – dem Camden Market. Doch wo früher Horden ausländischer Touristen durch die eng verwinkelten Gassen mit ihren Vintage-Läden und Coffeeshops drängten, kann die Ostschweizerin heute in aller Ruhe Secondhand-Klamotten probieren. «Die Pandemie hat das Strassenbild Londons verändert», sagt die 41-Jährige. Stärker als der Brexit. «In den Regalen fehlt zwar ab und zu ein Produkt, aber das nehmen die Briten gelassen.»
Umso härter hat Corona die Insel getroffen. Gegenüber dem Parlamentssitz, dem Westminster-Palast, wo Engbersen jeweils für Analysen in die «Tagesschau» und «10 vor 10» zugeschaltet wird, haben Angehörige der Verstorbenen an der Themse eine Gedenkmauer mit rund 150 000 selbst gemalten roten Herzen errichtet. «Ich erlebte die Pandemie hier in England ganz anders als in der Schweiz. Man spürte die Gefahr der Krankheit. Deshalb gab es auch kaum Proteste.»
Seit die ehemalige Ostschweiz-Korrespondentin und «Tagesschau»-Redaktorin im Frühling 2017 den Korrespondenten-Job von Urs Gredig übernommen hat, überschlagen sich in Grossbritannien die Ereignisse: Terroranschläge, Brexit, Megxit, Corona. Engbersen war oft mehrmals am Tag am TV zu sehen. «Mein Rucksack liegt immer gepackt bereit mit Make-up, drei Ersatzakkus, Ohrstöpseln und einem Schweizer Handy für den Notfall.» Ihr Partner, der in der IT-Branche tätig ist, hält ihr den Rücken frei. «Er gab für mich seinen Job in der Schweiz auf – ein grosser Liebesbeweis. Zudem hat er kein Problem damit, meine Arbeitskleider von der Reinigung zu holen», sagt Engbersen mit einem Augenzwinkern.
Um von ihrer Wohnung ins Regierungsviertel zu kommen, ist Engbersen mit dem E-Bike unterwegs. «Das geht am schnellsten – zudem gibts keine Schweissringe unter der Bluse.» Mit dem Velo hat sie auch schon den heutigen britischen Premierminister Boris Johnson überholt. «Ich rief ihm zu, dass ich Korrespondentin beim Schweizer Fernsehen sei und seinen Werdegang verfolge. Er antwortete: ‹Switzerland? Roger Federer!›»
Der britische Humor hat es Engbersen angetan. «Ich bewundere, wie die Engländer bei jedem Small Talk einen Witz einbauen – meist über sich selber.» Obwohl sie bis heute an dieser Kunst arbeite, fühlt sich die Tochter zweier Holländer, die in Romanshorn TG aufwuchs, in London schnell zu Hause. Geholfen habe dabei auch Hund Kenji, ein japanischer Shiba Inu, der ihrem Partner gehört. «Die Briten lieben Hunde, und man kommt sofort ins Gespräch.» Nicht nur das: «Eine Kollegin lud mich zur Geburtstagsparty ihres Hundes ein. Das war skurril und witzig zugleich.»
Viele Briten würden die Schweiz vor allem aus den Skiferien kennen und schätzen. Seit dem Brexit-Referendum wissen sie nun aber auch, dass die Schweiz nicht in der EU ist und Volksabstimmungen durchführt. Die meisten seien aber erstaunt, wenn sie ihnen erzähle, wie oft wir abstimmen. «Einer sagte: Viermal pro Jahr klingt ganz schön anstrengend!»
Engbersen, die auf dem ersten Bildungsweg das Lehrerseminar machte, dann aber merkte, «dass es mir mehr liegt, Wissen zu vermitteln, als Kinder zu disziplinieren», fand es spannend, so tief in ein Thema einzutauchen. Wochen verbringt die gross gewachsene Journalistin auf dem Rasen vor dem Westminster-Palast mit zig anderen TV-Crews und versucht das Brexit-Chaos einzuordnen. «Ich sass auf dem Randstein und schrieb meine Moderation – sehr unglamourös.»
Was ihr in England von Beginn an auffiel: wie selbstverständlich Frauen am TV auftreten. Als Expertinnen, Moderatorinnen, Bürgerinnen. «In der Schweiz musste ich oft mehrere Anläufe starten, damit eine Frau öffentlich hinsteht.» Ein wichtiger Grund für Engbersen, nach Ablauf ihrer Korrespondentenzeit im März in die Privatwirtschaft einzusteigen und als Partnerin einer Consultingfirma weibliche Führungspositionen zu rekrutieren. «Zudem will ich Frauen helfen, bei Auftritten selbstbewusst hinzustehen.»
Dabei könne sie ihre Erfahrung nutzen: «In der ‹Tagesschau› verfolgen mich bis zu einer Million Zuschauerinnen und Zuschauer – klar kriegte ich auch mal Schiss.» Hier habe ihr die angelsächsischen Just-do-it-Mentalität geholfen. «Ich bin in London mutiger geworden.»
Nun sucht sie eine Wohnung in der Stadt Zürich – doch am Wochenende zieht es Engbersen aufs Land. «Mein Partner stammt aus dem Appenzell, dort wollen wir leben.» Besonders freut sie sich auf mehr Zeit mit dem Gottemeitli, aufs Wandern und Füürlimachen.
Dafür werde sie das feierabendliche Pint im Pub mit den Kollegen vermissen. «Dieser Austausch über Gott und die Welt ist eine schöne Tradition», sagt sie und fügt lachend hinzu: «Heute schaffe ich dabei auch ein ganzes Pint – und nicht nur ein halbes wie am Anfang.»