Plopp – und plötzlich taucht Luzia Tschirky auf dem Bildschirm auf. Die SRF-Korrespondentin ist seit anderthalb Wochen zurück in der Schweiz und wohnt in einer gemieteten Einzimmerwohnung in Bad Ragaz SG. «Das ist praktisch, weil meine ganze Verwandtschaft in der Nähe lebt», sagt sie. Die Journalistin ist in Sargans SG aufgewachsen.
Luzia Tschirky, seit der Krieg in Europa ausgebrochen ist, erklären Sie der Schweiz, was in der Ukraine passiert. Eine Riesen-Verantwortung. Spüren Sie manchmal Druck?
Ich überlege mir gar nicht, wie gross der Druck ist, der jetzt auf mir lastet. Aber ich frage mich immer, was ich anders oder besser machen könnte. Das Schweizer Fernsehen hat nur eine Reporterin vor Ort, nämlich mich. Natürlich wird die Berichterstattung durch meine Sichtweise geprägt.
Wie viel Empathie dürfen Sie sich als Reporterin erlauben?
Ich habe nicht das Gefühl, dass ich eine total von mir losgelöste Berichterstattung machen kann. Es liegt in meiner Verantwortung als Journalistin, wie ich die Menschen im Kriegsgebiet den Zuschauern in der Schweiz näherbringe. Die Ukraine ist ja nicht Italien oder Frankreich, also nicht unsere Feriendestination Nummer eins. Aber wenn Menschen aus der Ukraine in die Schweiz flüchten, betrifft der Krieg auch uns direkt. Wir müssen verstehen, aus welcher wahnsinnig schwierigen Situation die Flüchtlinge kommen und dass sie traumatische Wochen hinter sich haben.
Wie filtern Sie die Wahrheit aus der Flut an Informationen – wahren und falschen?
Wenn ich etwa ein Video von toten ukrainischen Zivilisten im Netz sehe, suche ich vor Ort eine zweite Quelle, um diese Aufnahmen zu verifizieren. Das können ukrainische Journalisten oder persönlichen Kontakte sein, die ich in den letzten Jahren aufgebaut habe. Es ist wichtig, dass wir nichts publizieren, ohne es vorher zu verifizieren.
Luzia Tschirky entdeckte ihre Begeisterung für Osteuropa während einer Gymi-Reise nach Ungarn. Danach lernt sie Russisch. Sie studiert Politikwissenschaft und arbeitet für verschiedene Zeitungen, Radio- und TV-Sender, bevor sie 2019 Korrespondentin in Russland wird – mit 28 Jahren und als erste Frau in dieser Position. Die St. Gallerin berichtet in den folgenden Jahren aus allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Kurz nach Kriegsausbruch in der Ukraine meldet sich die «Journalistin des Jahres 2021» live aus der Hauptstadt Kiew. Sie steht am Strassenrand, trägt eine schusssichere Weste und sagt, sie habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.
Bringen Sie solche Momente an Ihre Grenzen?
Klar war das schwierig. Zwar trug ich eine Schutzweste, aber wirklich vorbereitet ist man auf so eine Extremsituation nie. Wie man tatsächlich in einem solchen Moment reagiert, kann niemand vorhersagen.
Spürten Sie Angst?
In einem Kriegsland gibt es nie hundertprozentige Sicherheit. Dort muss ich immer überlegen, wo, wie lange und mit wem ich mich auf halte. Und ich weiss auch, dass ich viele Umstände nicht kontrollieren und beeinflussen kann. Wenn ich mir das jetzt so überlege: Ja, das macht Angst. Aber vor Ort realisiere ich das gar nicht. Dort tritt ein Urinstinkt auf, und ich funktioniere nur noch. Ich denke mir dann: Jetzt muss ich packen, jetzt rausgehen, jetzt schauen, wo das Auto ist. Angst nehme ich dann gar nicht wahr.
Sie brachten sich kurz darauf in Polen in Sicherheit, Ihr Kameramann Witali musste in der Ukraine bleiben. Wie erlebten Sie diesen Abschied?
Das war sehr schwierig für mich. Ich versuchte, die Soldaten an der Grenze zu überreden, ihn durchzulassen – leider ohne Erfolg. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ordnete an, dass alle diensttauglichen Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht ausreisen dürfen. Mein Kameramann blieb mit seiner Ehefrau zurück. Ich gab ihr meine Schutzweste und meinen Helm. An der Grenze sah ich viele Frauen und Kinder, sie sich von ihren Männern verabschieden mussten. Solche Momente will niemand erleben.
Plötzlich springt ein kleiner weisser Hund ins Bild. Es ist Bluma, die Hündin von Luzia Tschirky. Die Reporterin versucht, sie auf Russisch zu beruhigen – doch der Bichon Frisé kann seine Freude nicht verstecken. Bluma lebte mit Luzia Tschirky und ihrem Ehemann, einem Journalisten, der als Korrespondent für eine deutsche Tageszeitung arbeitet, in Moskau.
Was haben Sie als Erstes gemacht, als Sie wieder in der Schweiz waren?
Eine Mail verschickt. Im Flugzeug hatte ich ja keinen Empfang. Der Krieg beschäftigt mich auch hier, und ich bereitete nach der Landung bereits eine Sondersendung für den nächsten Tag vor.
Welche Rückmeldungen haben Sie von Ihrer Familie und Ihren Freunden bekommen?
Viele haben mich angeschrieben und gefragt, wie sie helfen können. Es freut mich zu sehen, dass viele Menschen dem Krieg gegenüber nicht gleichgültig sind. Die Ukrainerinnen und Ukrainer brauchen jede Hilfe.
Werden Sie in der Schweiz oft angesprochen?
Ja, das ist ganz ungewohnt für mich. Gerade heute von mehreren älteren Menschen: Einer kam zu mir, legte seine Hand auf meine Schulter und sagte Grüezi. Ich dann so: Freut mich sehr, aber Exgüsi, wer sind Sie?
Sehen Sie die Schweiz jetzt mit anderen Augen?
Es ist ein grosses Privileg, dass es diesen sicheren Ort gibt, wohin ich zurückkehren kann. Wer hier aufwächst, hat riesiges Glück.
Sie wohnen eigentlich in Moskau. Haben Sie vor, nach Russland zurückzukehren?
Es war nicht geplant, dass ich von der Ukraine über Polen in die Schweiz komme. Moskau ist im Moment ausgeschlossen. In Russland gibt es ein neues Gesetz, das eine unabhängige Berichterstattung aus dem Land unmöglich macht. Wer die Rhetorik des Kreml nicht übernimmt und diesen Krieg tatsächlich als Krieg bezeichnet, lebt gefährlich. Dafür kann man bis zu 15 Jahre Gefängnis bekommen.
In den nächsten Tagen reisen Sie zurück nach Polen. Warum?
Es gibt keine ruhigen Momente mehr im Leben von über 40 Millionen Menschen in der Ukraine. Auch ich habe dort Freunde, Bekannte und Mitarbeiter. Auch mich betrifft diese Situation direkt. Darum kann ich mich nicht einfach ausklinken. Ich muss einfach weitermachen.