Als Hotelier erlebe ich gerade die intensivsten Zeiten des Jahres. Es sind Sportferien – und Zermatt ist voll mit Touristen. Vor allem an den Wochenenden herrscht Stossverkehr: Die einen kommen, die anderen gehen. Selbstverständlich verfolgte ich die Ski-WM in Saalbach aber sehr eng am Fernsehen. Und ich freue mich mit der ganzen Nation: Was wir derzeit erleben, ist schlicht grandios – und erinnert mich in gewisser Beziehung an die grossen 1980er- und 90er-Jahre.
Besonders der Doppelsieg im Slalom durch Camille Rast und Wendy Holdener ist mir emotional sehr nahegegangen. Wer das Gefühl kennt, als Führende (wie Camille) zu einem zweiten Lauf anzutreten, weiss genau: Der Druck ist immens, die Emotionen sind gross. Da muss man alles dafür tun, um für diese Herausforderungen Lösungen zu finden. Hier gibt es verschiedene Ansätze. Die einen lenken sich bewusst ab und lassen äussere Einflüsse auf sich eintreten, die anderen bleiben auch zwischen den Läufen hoch konzentriert und lassen nichts an sich ran. Camille hat das brillant gemacht. Und auch Wendy fand das richtige Rezept.
Dass es Loïc Meillard am Schlusstag seiner Kollegin gleichtat, war das Pünktchen auf dem i. Der Triumph des Neuenburgers zeigt die historische Dimension der Schweizer Leistungen an den WM. Es war bei den Männern das erste Slalom-Gold an Weltmeisterschaften seit 75 Jahren.
Mit 13 Medaillen – fünf aus Gold – steht Swiss-Ski so gut da wie nie mehr seit den legendären Weltmeisterschaften in Crans-Montana 1987, als wir insgesamt 14-mal Edelmetall holten.
1987 holen die Schweizer Skicracks 14 Medaillen, eine mehr als in Saalbach. Die damaligen Superstars: Erika Hess, Pirmin Zurbriggen und Maria Walliser (v. l.).
foto-net / Kurt SchorrerWie damals ist der Teamgeist der Schweizer herausragend – heute sogar noch stärker; zumindest in der Aussenwahrnehmung. Oft werde ich gefragt, was Medaillengewinne von Mannschaftskolleginnen oder -kollegen in einem Einzelsport für das Team- gefüge ausmachen. Eine ganze Menge! Ist das Team von Beginn weg erfolgreich, nimmt dies vom Einzelnen grossen Druck – und verleiht ein Gefühl der Freiheit. Auch weil allfällige Nebenschauplätze kein Thema sind.
Entscheidend ist – und das spürte man in Saalbach ganz deutlich –, dass sich die Mitglieder der WM-Mannschaft aufrichtig für die Erfolge ihrer Kolleginnen und Kollegen freuen. Dies ist exakt der Nährboden, der Herausragendes möglich macht. Man muss sich den Erfolg gegenseitig gönnen. Das Gegenteil ist der Neid. Er ist das Schlimmste, was sich in ein Team einschleichen kann. Er zerstört alles; letztlich auch dich selber.
Ein anderer kann die Lücke füllen
Die Schweizer verfügen derzeit über ein beeindruckendes Reservoir an aussergewöhnlichen Skifahrern; Skifahrern mit ganz unterschiedlichen Qualitä-ten. Etwa in der Abfahrt mit Franjo von Allmen und Alexis Monney. Der Berner Oberländer verkörpert den unerschrockenen Draufgänger, der über eine quasi angeborene Grundschnelligkeit verfügt, der Freiburger Alexis Monney macht es vor allem mit seiner exzellenten Technik. Gerade diese Vielseitigkeit verleiht den Schweizern eine grosse Stabilität und Krisenfestigkeit. Zieht ein Athlet einen schlechteren Tag ein, kann der andere die Lücke füllen.
Lara Gut-Behrami, die Tessinerin, der bis jetzt der Ruf der Einzelkämpferin angehaftet hatte, demonstrierte das Schweizer Zusammengehörigkeitsgefühl mit Einsicht und Konsequenz: Als sie in der Teamkombination Silber gewann, verneigte sie sich vor der überragenden Slalomleistung von Wendy Holdener und sagte: «Diese Medaille gehört zu 95 Prozent Wendy.»
Erinnere ich mich an meine Zeiten zurück, kommt mir immer wieder Peter Müller in den Sinn. Wir waren ganz unterschiedliche Charaktere. Und man kann kaum sagen, dass Pitsch für absolute Harmonie stand. Ich hatte immer das Gefühl, dass er eigentlich ein net- ter Kerl ist. Zwar galt er als Eigenbrötler, aber im entscheidenden Moment konnte man sich auf ihn verlassen.
Im Gegensatz zu mir war Pitsch ein reiner Abfahrer. Diese Spezialisten haben einen anderen Fokus und eine andere Vorbereitungsform. Ich durfte zwischen den Welten pendeln. Diese Wechselseitigkeit und diese Balance waren wohl mitentscheidend für meine Siege. In einem erfolgreichen Skiteam ist es wie in einer guten Fussballmannschaft: Jeder kennt seine Rolle, jeder füllt sie mit letzter Konsequenz aus.
Heute arbeitet Pirmin Zurbriggen als Hotelier in Zermatt, geniesst seine Freizeit mit Ehefrau Moni und den Enkelkindern.
Andrea SoltermannSpricht man von den herausragenden Leistungen der Schweizer in Saalbach, muss man Marco Odermatt speziell erwähnen. Seine Fahrt im Super-G kam der Perfektion nahe. Dieser Erfolg sowie sein Verhalten waren die Basis für weitere Schritte für die ganze Mannschaft. Ich werde oft auf den Vergleich zwischen uns beiden angesprochen. Und tatsächlich gibt es auffällige Parallelen. In der Abfahrt sehe ich Ähnlichkeiten – und ganz spezifisch im Super-G. Marco stürzt sich wie ein Kamikaze in die Rennen und scheut kein Risiko. Er kann die Kurven kürzer halten und während der Fahrt die Situation des Parcours sehr schnell und gut einschätzen. Das macht ihn – dank seiner herausragenden Technik – brutal schnell. Exakt diese Konsequenz braucht es, um Rennen zu gewinnen. Denn der Konkurrenzkampf bei den Männern ist immens. Die anderen Fahrer sind auch keine Hosenknöpfe.
Wie lange das Schweizer Skihoch noch anhält? Das ist schwer zu sagen. Im Skisport müssen unglaublich viele Faktoren zusammenspielen, um es an die Spitze zu schaffen. Dies sah ich bei meinen Kindern. Sie sind zwar alles talentierte Skirennfahrer und brachten es auf ein gutes Niveau. Um aber den Durchbruch an die Weltspitze zu schaffen, fehlte ihnen das letzte Quäntchen. Der finale Schritt ist der wichtigste – aber auch der schwierigste.
2027 findet die Ski-WM in Crans-Montana statt – exakt 40 Jahre nach «unseren» grossen Titelkämpfen. Ob wir dann ein ähnliches Jubelfestival erleben dürfen? Garantiert ist dies nicht. In zwei Jahren kann sich einiges ändern. Deshalb müssen wir das, was wir derzeit erleben, in vollen Zügen geniessen.
Text: Pirmin Zurbriggen, aufgezeichnet: Thomas Renggli