Matthias Glarner, was war Ihr spontaner Gedanke, als Sie von Curdin Orliks Outing gehört haben?
Matthias Glarner: Zuerst habe ich daran gedacht, was es für ihn als Mensch bedeutet. Ich kenne ihn als besonders feinen Typen und Trainingskollegen. Ich dachte: Hoffentlich kommt das gut.
Es gab ja vor dem Eidgenössischen schon das Gerücht, es werde sich ein Topschwinger outen.
Man diskutierte das unter den Aktiven. Aber eher im humoristischen Sinn. Schwule Schwinger schienen kein No-Go zu sein. Die jetzige Schwingergeneration ist mit dem Thema aufgewachsen und entsprechend aufgeschlossen. Weil wir den gleichen Manager haben, wusste ich schon etwas früher von Curdins Homosexualität. Aber das Outing kam dann doch unerwartet. In meinem Umfeld gibt es noch andere homosexuelle Personen, also habe ich mich eher gefragt: Wieso ist so ein Outing heute überhaupt noch nötig? Fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sind homosexuell. Ist doch klar, muss es auch schwule Schwinger geben unter 3000 Aktiven.
Gabs seither Kontakt mit Curdin?
Nein, ich weiss von meinem Unfall her, was abgeht, wenn so ein Medienthema aufgekommen ist. Da ist man erst mal froh um etwas Ruhe. Aber ich freue mich darauf, ihn bald wiederzusehen und ihm meine Message zu seinem Schritt persönlich mitzuteilen.
Wie ist die Stimmung unter den Schwingern seit dem Outing?
Das Thema war schnell abgehakt. Die Aktiven beschäftigen sich wieder mit dem bevorstehenden Saisonstart.
Dann wird auch Curdin Orlik dabei sein. Was erwartet ihn da?
Ich glaube, von den Schwingkollegen wird er den einen oder anderen Spruch hören, aber liebevoll gemeint, nicht abwertend. Von Zuschauerseite hoffe ich, dass er völlig normal empfangen wird, als Sympathieträger wie bisher. Seine attraktive Schwingweise wird ihm helfen. Gewiss wird es Unverbesserliche geben, die sich etwa nach reichlich Alkoholkonsum negativ bemerkbar machen. Aber die werden von der versammelten Schwinger-Gesellschaft mit Garantie in den Senkel gestellt. Alles andere wäre ein Rückschritt in die Steinzeit.
Ist der Schwingsport gesellschaftlich aufgeschlossener als sein Ruf?
Da bin ich sicher! Farbige Schwinger, solche mit Migrationshintergrund oder Unverheiratete mit Kindern, das sind unter den Aktiven längst keine Themen mehr. Selbst politisch findet heute eine gewisse Durchmischung statt. Auch wenn klar ist, dass durch die Herkunft und Konzentration der Sportart in ländlichen Gebieten eine bestimmte Partei wohl mehr Rückhalt hat. Andererseits hebt die Traditionsverbundenheit das Schwingen gerade von anderen Sportarten ab.
«Weil wir den gleichen Manager haben, wusste ich schon etwas früher von Curdins Homosexualität.»
Matthias Glarner
In welchen Sportarten hätten Sie ein solches Outing eines noch aktiven Spitzen-Vertreters eher erwartet als im wertkonservativen Schwingen?
Schwierig, das so generell zu sagen. Vielleicht ist gerade das Schwingen für ein solches Outing prädestiniert. Hier ist man in einem kleineren, familiären und in sich solidarischen Kreis, wo man sich gegenseitig wohl eher unterstützt als beispielsweise im Fussball.
Ihr Bruder Stefan ist ja Profi-Fussballer beim FC Thun. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen, weshalb es im Fussball noch keinen Aktiven mit Curdins Mut zum Outing gibt?
Auch, aber eher noch mit unserer Schwester Katrin, die bei Worb in der NLB spielt. Für sie als heterosexuelle Frau ist das Zusammenspielen mit lesbischen Kolleginnen das Normalste der Welt. Klar aber ist der Fussball eine ganz andere Welt mit anderen Werten. Vor allem unterliegt dort das Benehmen im Stadion weniger einer Sozialkontrolle. Deshalb muss sich ein Fussballer oder Eishockeyspieler schon gut überlegen, ob ein Outing klug ist. Es ist von Fall zu Fall anders. Wichtig ist, dass der geoutete Sportler und seine Sportart dann nicht für Kampagnen instrumentalisiert werden. Das gilt aber auch etwa für politische Aspekte.
Würden Sie unbekannten Jungschwingern zum Outing raten?
Hinstehen und sagen, was Sache ist, wenn man mit sich im Reinen ist, erscheint mir immer das Beste. Für einen Jungen ist das wohl sogar einfacher.
Curdin Orlik hat sich letztes Jahr auch von einem Sponsor mit Nähe zum Rechtsextremismus getrennt. Ist er nur konsequenter als andere?
Auf jeden Fall ist er ein sehr intelligenter, reflektierter Mensch. Ich diskutiere mit ihm gerne über Dinge ausserhalb des Sägemehls. Drum zweifle ich nicht, dass er seinen Weg findet.
Es wird spekuliert, gewisse Funktionäre könnten Curdin künftig bei der Einteilung benachteiligen.
Das glaube ich gar nicht! Das kann sich niemand leisten. Jetzt erst recht nicht mehr. Das fiele auf diejenigen zurück.
Curdin war schon bisher ein Topschwinger. Kann er nun sogar zu einem Königsanwärter avancieren?
Gut möglich, dass die Befreiung durch das Outing jenes Mosaiksteinchen ist, das fehlte, um die grössten Feste zu gewinnen. Ich traue es ihm zu.
Sie sind für Curdin optimistisch. Und für das Schwingen insgesamt? Nützt oder schadet Orliks Mut?
Das war für mich die zweitwichtigste Frage nach jener, welche Folgen es für Curdin hat. Und ich bin in beiden Fällen sehr optimistisch. Schlimm wäre gewesen, wären die Reaktionen zweigeteilt ausgefallen. Aber ich habe nun gesehen: Doch, der Schwingsport kann aufgeschlossen damit umgehen.