Es gibt ein Haus in Oberbipp BE, das so gar nichts zu tun hat mit der typisch ländlichen Berner Architektur. Das Haus ist ein Kunstwerk. Ein Objekt von einem anderen Planeten. Sogar mit eigenem Trabanten. Denn die eine Fassade ist eine Kraterlandschaft, originalgetreu aus Nasa-Daten der Mondoberfläche in den Beton kopiert. Geschaffen vom Solothurner Künstler Carlo Borer (65). 6500 Quadratmeter gross ist das Areal, auf dem der 63-Jährige vor neun Jahren sein Traumhaus gebaut hat – selbst entworfen bis zur letzten Schraube. Kommt man von der Strasse, dann sind das Atelier und das Wohnhaus – zwei Stahlelementbauten –durch einen Parkplatz getrennt. Auf der Südseite werden die beiden Liegenschaften zu einer harmonischen Einheit: Sie sind auf der ganzen Ebene miteinander verbunden. Die Länge des Hauses hat ein Baum bestimmt, präziser: eine Kanadische Eiche. Um diese Riesin gebührend zu würdigen, hat Carlo Borer extra für sie ein raumhohes Fenster platziert.
Das Wohnhaus ist pures Wow! Unglaublich grosszügig, unglaublich cool dieser Mix aus Beton und Glasfronten. «Ich liebe Beton», so Borer. «Ich liebe dessen Klarheit.» Wohnzimmer, Bibliothek, Küche, Gästezimmer – ein einziger Raum (Schlafzimmer und Bad sind im oberen Stock). Türen gibt es keine. Sondern nur Öffnungen links und rechts, in der Mitte logischerweise Segmente aus Beton. «Die Geometrie des Hauses ist so gewählt, dass ich möglichst viele Wände habe, um Kunst aufzuhängen. Mein Haus ist nur für die Kunst gebaut.»
Schneiden, schweissen, hämmern
Tatsächlich sind es nur ein paar wenige Schritte vom Privaten zu Carlo Borers Passion: dem geräumigen Ausstellungsraum mit einem Teil seiner Werke. «Hier kann ich meine Kunst zeigen. Es macht ja keine Freude, wenn sie in Kisten verpackt im Lager steht. Hier kann ich auch meine Ausstellungen vorbereiten und durchspielen.»
Carlo Borer ist ein Autodidakt. Aufgewachsen in Solothurn, verfeinert er nach der Matura sein handwerkliches Geschick und bringt sich selbst Techniken bei, die ihn interessieren. «Meine Eltern wollten, dass ich eine Kunstakademie besuche. Sie hätten diese auch bezahlt. Doch ich wollte meine eigene Sprache entwickeln, fern von anderen Einflüssen», erzählt er. Seit 1981 arbeitet Borer als freischaffender Künstler. Er beginnt mit der Malerei, hat in diesem Jahr auch seine allererste Ausstellung in der legendären Freitagsgalerie in Solothurn. Seine Leidenschaft findet er später in der Schaffung dreidimensionaler Objekte aus Polyester und elektrischem Licht. Ab 1991 folgen Objekte aus Edelstahl oder Aluminium, und seit 1999 entwirft, entwickelt und konstruiert er per 3-D CAD Skulpturen, Plastiken und Installationen. Mittels Laser werden Formen aus Blech geschnitten, dann gerundet und verschweisst oder gehämmert. Diese Werke betitelt Borer als «Transformers», «Loops» oder «Cluster».
Eigener Rhythmus
«Ich arbeite sehr langsam, ich kann nicht wirklich Massen produzieren. Ich muss leiden, bis ein Objekt geboren ist. Sonst habe ich das Gefühl, dass es nichts ist.» Die Idee entstehe im Kopf, wandere dann in den Bauch und umgekehrt. «Das kann dauern. Aber plötzlich ist sie klar, und ich weiss, wie ich das Projekt umsetzen kann. Und ist das Werk fertig, freue ich mich, bin aber eigentlich schon bei der nächsten Idee.»
Vom Ausstellungsraum gehts die Treppe hoch ins Atelier. Es ist räumlich aufgebaut, von sauber bis dreckig. Sauber beginnts im «Head Quater», so nennt Borer augenzwinkernd sein Büro. Hier kreiert er am Computer seine Werke. Hier ist auch ein kleines Fotostudio, denn jedes Objekt wird fotografiert. Weiter gehts in die Mechanik, dann in die Schreinerei. Da wirds dreckig, gibts Staub. Und jede Menge Maschinen. Etwa eine Radialbohrmaschine («Ich liebe dieses Ding») oder Drehbänke von Schaublin («Der Rolls-Royce der Drehbänke»), eine Fräsmaschine und ein Laserbeschrifter. In einem abgesonderten Raum befindet sich die Polissage. Hier werden seine Skulpturen aus Edelstahl auf Hochglanz poliert. Es versteht sich von selbst, dass der Maestro jeden Handgriff aus dem Effeff beherrscht.
Im Neubau, der gerade fertiggestellt wurde, sind weitere Arbeiten des «Objektbauers», wie Borer sich selber nennt, ausgestellt. Es sind die sogenannten «NoReadyMades» und «Spaceships». Der Künstler lässt sich dabei von Fundstücken inspirieren und setzt sie mittels anspruchsvollem Handwerk in einen neuen Kontext um. Sie täuschen vor, Gebrauchsgegenstände einer technisch hochstehenden Zivilisation zu sein, und führen den Betrachter so elegant in die Irre.
Ausgezeichnet und gefeiert
Heute kann Carlo Borer von seiner Kunst leben. Seine Arbeiten kosten zwischen 7000 und 300'000 Franken. Das war nicht immer so. Jahrelang verdiente er sein Geld mit anderen Jobs: als Innenarchitekt, als Teilhaber einer Weinexpo oder mit dem Verkauf alter Schaufensterpuppen, die er liebevoll restaurierte. «Ja, das waren zum Teil sehr schwierige Zeiten. Nicht zuletzt deshalb, weil meine Werke immer sehr aufwendig waren und mich viel gekostet haben.»
Heute sind Carlo Borers mehrfach ausgezeichnete Werke in zahlreichen Privatsammlungen und im öffentlichen Raum vertreten, sie wurden in der Schweiz, in Europa und in den USA ausgestellt. Eine der wichtigsten Ausstellungen für Carlo Borer war «Sleeping with the Gods» in der Kulturstiftung Basel H. Geiger im Sommer 2022. Denn er beschäftigt sich schon länger mit Fragen rund um Evolution, Natur und Überbevölkerung. So kreierte er für diese Ausstellung eine raumfüllende Installation, die sich dem rasanten Bevölkerungswachstum mit dem gleichzeitigen Aussterben in der Tier- und Pflanzenwelt widmet. «Das war eine spannende Grossskulptur. Leider ist mein Haus zu klein, um sie hier zu zeigen», so Carlo Borer schmunzelnd.
Leidenschaft fürs Grüne
Ja, Carlo Borer ist ein fröhlicher Mensch. Er lacht viel, auch gern über sich selbst und natürlich auch mit seiner Freundin Imke Besse (54). Sie arbeitet als Verkaufsleiterin. Die beiden sind seit rund zwei Jahren ein Paar. Und seit Dezember sind sie zu viert – mit den Katzen Nixon und Himalaya. Ein paar Pfiffe genügen – na, jedenfalls meistens –, und schon stehen die bildschönen Vierbeiner an Carlo Borers Seite, um mit ihm durch den Garten (seine zweite Leidenschaft neben der Kunst) zu flanieren.
Der Garten ist tatsächlich ein Paradies, das dank den riesigen Glasfronten mit dem Haus verschmilzt. Jeder Baum ist mit Bedacht gewählt und platziert. Sei es der Ginkgo, die Trauerweide, die Zwergulme, die Persische Buche, die Silberlinde, die Zaubernuss oder die Florida-Magnolie. Und da und dort in Stahl – die ganz grossen Werke des Grossen.