Nach über drei Jahrzehnten lebt Jürg Grossen (54) wieder mit seinen Eltern unter einem Dach. Im Mai sind Hans (79) und Annelies Grossen (79) von ihrem Haus in Frutigen BE ein paar 100 Meter weitergezogen in eine Wohnung bei ihrem Sohn. In das Wohn- und Bürogebäude, das dem Parteipräsidenten der Grünliberalen und seiner Frau gehört. «Von unseren drei Kindern sind zwei schon ausgezogen. Wir hatten wieder mehr Platz», sagt Grossen. «Wir bekommen Jürg aber deshalb nicht viel öfter zu Gesicht», sagt seine Mutter. «Manchmal sehe ich, dass das Licht in seinem Büro spätabends noch brennt. Dann denke ich mir: Jetzt ist Schluss, geh lieber schlafen.»
Jürg Grossen ist als ältester von drei Brüdern hier im Berner Oberland aufgewachsen. «Als Schüler war er eher schüchtern», sagt sein Vater. «Wenn Schultheater war, hat er am liebsten hinter den Kulissen gearbeitet – sodass ihn ja niemand sieht.» Der Sohn erinnert sich: «Im Mittelpunkt fühlte ich mich damals nicht wohl. Ich war lieber draussen und spielte Fussball.»
Doch das ändert sich ein paar Jahre später, als er mit Freunden eine Band gründet, in der er Gitarre spielt. Plötzlich steht er im Scheinwerferlicht auf der Bühne – und findet es nicht mehr so schlimm. «Dass viele junge Menschen – vor allem junge Frauen – extra gekommen sind, um uns zu hören, hat mir schon gefallen», sagt Grossen und lacht.
«Wir hatten fast keine Arbeit»
Politik war am Familientisch der Grossens kaum ein Thema. Seine Initialzündung erlebt Jürg Grossen erst, nachdem er mit der Lehre als Elektroplaner fertig ist. Sein damaliger Chef verunglückt bei einem Helikopterflug, Grossen übernimmt die Firma 25-jährig zusammen mit einem Freund.
«Es war nicht immer einfach. Jahrelang verdiente ich nur 3500 Franken im Monat. Wir hatten fast keine Arbeit. Ich suchte oft Rat bei meinen Eltern. Fragte sie, ob sie nicht jemanden kennen, der gerade baut und einen Auftrag für uns hat.» Da habe er gemerkt, dass es nichts nützt, nur die Faust im Sack zu machen. «Ich beschloss, dass ich etwas verändern will. Dass ich die Rahmenbedingungen für Unternehmer und für die Nachhaltigkeit verbessern will», sagt er. «Jürg hatte immer einen starken Willen. Wenn er etwas wollte, hat er es auch erreicht», sagt die Mutter.
Etwas ist geblieben
Jürg Grossen sitzt mit seinen Eltern auf der Terrasse. Die drahtige Statur hat er vom Vater, die weichen Gesichtszüge von der Mutter. Im neuen Daheim haben sie zusammen einen grossen Garten angelegt und pflanzen Rüebli, Salat und Zucchetti an. «Ein kleines Paradies. Ich kann einfach rauskommen und mir aussuchen, was ich für den Zmittag kochen will», sagt Annelies Grossen. Ihr Sohn ernährt sich hauptsächlich vegetarisch, abgesehen von einem gelegentlichen Cervelat.
Erst mit über 40 Jahren steigt Grossen in die Politik ein und gründet die GLP Thun/Berner Oberland mit. «Die Partei ist auf seine Grundwerte zugeschnitten – den wirtschaftlichen Aspekt auf der einen Seite, den Bezug zur Natur auf der anderen», erklärt der Vater. «Jürg war immer draussen, am Wandern oder am Klettern.» – «Das habe ich definitiv von dir», sagt der Sohn. Hans Grossen ist in der Region ein bekannter Alpinist. Er bestieg die hohen und bekannten Wände im ganzen Alpenbogen und im Yosemite Valley in Amerika. Auch im vergangenen Winter machte er noch Skitouren mit seinem Sohn.
Ziel: Zehn Prozent
2011 wird Jürg Grossen auf Anhieb in den Nationalrat gewählt, sein erstes grösseres politisches Mandat. «Das konnten wir fast nicht glauben», sagt Mutter Annelies Grossen. 2017 wird er zum Präsidenten der Grünliberalen gewählt. Für ihn sei wirksamer Klimaschutz die grosse Aufgabe unserer Zeit. Mit der drohenden Energieversorgungskrise sei ein neues Problem von grosser Dringlichkeit dazugekommen. Die Grünliberalen seien weder links noch rechts, sondern vorwärtsgewandt.
Sein Ziel für die Wahlen im Oktober: ein Wähleranteil von zehn Prozent und der Einzug in den Ständerat. Er selbst kandidiert in seinem Kanton fürs Stöckli. Vom schüchternen Schüler ist trotzdem bis heute etwas geblieben. «Manchmal brauche ich einfach Zeit für mich, ohne andere Menschen», sagt Jürg Grossen. Dann geht er im Sommer biken und im Winter auf Skitouren.
«Wir sind sehr stolz auf ihn, aber ich habe auch viel Kummer», sagt die Mutter. «Ich frage mich, ob das alles zu viel wird. Und wenn er kritisiert wird, kann ich das nur schwer ertragen.» Artikel in den Zeitungen über ihren Sohn lese sie deshalb nur wenige. Der Vater dafür alle.
«Es geht darum, sich ein Ziel zu setzen und dieses zu erreichen», sagt Hans Grossen. «Das war bei mir im Bergsport so und ist bei ihm in der Politik genauso. Ich habe mich auch bei schwierigen Touren nie vom Ziel abbringen lassen. Diesen Biss sehe ich auch bei meinem Sohn.»