Nach gut zwei Stunden Gespräch sitzt Adolf Muschg im Garten seines Hauses in Männedorf ZH und zündet sich eine Pfeife an. Der Schriftsteller ist umgeben von viel Grün, er wirkt gelassen. Über die Jahrzehnte hinweg gab es viele Aufnahmen, die Muschg genau so zeigen: das Haar zerzaust, die Kleidung dezent, den Rauch im Gesicht. Nun wird Adolf Muschg 90 Jahre alt. «Wohl meist der letzte runde Geburtstag vor dem Trauerfall», wie er vor Kurzem im «Blick» scherzte.
Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Adolf Muschg sind Namen, die oft im selben Atemzug fallen und die 60er- und 70er-Jahre in der Schweiz als intellektuelle Stimmen prägten. Damals hing ihnen das Land an den Lippen. Adolf Muschg schreibt auch heute noch literarische Texte und raucht seinen englischen Tabak. Doch um den grossen Intellektuellen der Schweiz ist es stiller geworden. Was aber treibt ihn im Alter noch um?
Dem Gras beim Wachsen zuschauen
Das Zeitgeschehen beschäftigt Muschg nach wie vor. Zu allen wichtigen Fragen der Gegenwart hat er eine Meinung: Er fordert Gespräche mit Russland, um Frieden in der Ukraine zu ermöglichen, ist brüskiert von der Radikalität der Cancel Culture und schimpft über den Begriff der Work-Life-Balance. Und doch: Ein öffentlicher Intellektueller will er nicht mehr sein. «Diese Rolle hatte ihre Zeit. Die Meinungsbildung für eine ganze Nation – das ist nun wirklich vorbei. Und das ist auch nicht mehr mein Ehrgeiz.»
Dabei war er einer, der sich mit den grossen Fragen der Schweiz beschäftigte – und das nicht nur als Schriftsteller. In den 70er-Jahren war Muschg Mitglied der Kommission für eine Totalrevision der Bundesverfassung. Und Kandidat für den Ständerat. Literarisch hingegen blieb er immer zeitlos, egal, ob in seinem Hauptwerk «Der Rote Ritter», einer Neuinterpretation des Parzival-Epos, oder in seinem kürzlich erschienenen Roman «Aberleben», einer Auseinandersetzung mit dem Sterben. In diesem jüngsten Buch von Muschg reist ein Schriftsteller nach Berlin, lässt die Schweiz hinter sich und ergibt sich dem Krebs mit einer Prise Fatalismus. In einem Leben, das von Krankheiten geprägt ist, bleibt dem Schriftsteller das Schreiben.
Muschg ist noch gut zu Fuss, auch wenn er hin und wieder über seine Gebrechen klagt. Über die Hämatome, diese «bleibenden Schönheitsmängel», oder über die schlechter werdenden Augen – den grauen Star. Vielleicht, so sagt Muschg, könne er bald nicht mehr lesen oder schreiben, das wäre für ihn die wohl grösste Tragödie aller möglichen. «Wissen Sie», sagt er und hält lange inne, «ein paar Dinge legt man sich in einem langen Leben etwas zurecht. Aber meine wirkliche Empfindlichkeit sitzt im Schreiben.»
«Ich hoffe, dass das, was ich noch schaffen kann, auf der Höhe meiner Erwartung ist»
Adolf Muschg
Sich im Grossen vergessen
Vor diesem Hintergrund rückt das Alltägliche in den Mittelpunkt: «Ich bin dankbar für all die Minuten, in denen ich keine gesundheitlichen Probleme habe, sondern sehe, wie Käfer laufen und Gräser wachsen, und ich mich vergesse in dem, was so viel grösser ist als wir.» Muschg formuliert gern lange Sätze, er will das Gespräch mit der Schweizer Illustrierten auf Hochdeutsch führen, der Übersetzung des Dialekts ins Schriftdeutsche traut er nicht. «Ich gehöre zu den Leuten, die Gedanken erst beim Reden entwickeln», sagt er. Bemerkbar wird das, wenn er abschweift, wieder und wieder Goethe zitiert oder die Finesse des antiken griechischen Theaters lobt.
Mit dem, was er geschrieben hat, inspirierte er Generationen von Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftstellern. So etwa auch Dana Grigorcea, 44, die mit ihrem aktuellen Roman «Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen» gerade selbst einen literarischen Erfolg feiert und Muschgs vorgezogene Geburtstagsfeier im Literaturhaus Zürich am 12. Mai moderiert. «Für mich hat die Literatur kein Geschlecht und kein Alter, es sei denn, etwas setzt Staub an. Um das zu verhindern, braucht es eine Wendigkeit im Geiste.» Diese beherrscht Muschg laut Grigorcea auch im Alter von 90 noch. Dana Grigorcea nennt Muschg eine «Erscheinung», jemand, dem die Leute beim Spaziergang durch die Stadt nachschauen. So sei es gewesen, als sie nach dem letzten Treffen mit ihm durch Zürich lief.
Tatsächlich ist der 90-Jährige, der in Männedorf an einer neuen Erzählung schreibt – worüber, das ist noch geheim –, nach wie vor eine Erscheinung. Allerdings eine, die mit der Grösse, die ihr anlastet, umzugehen vermag: «Ich habe positive und negative Resonanzen auf meine Bücher erlebt und hoffe, dass das, was ich noch schaffen kann, auf der Höhe meiner Erwartung ist», sagt er.
Noch eine Reise nach Japan
Adolf Muschg bleibt gern im Fluss, er unternimmt nach wie vor lange Reisen. Zu seinem Geburtstag reist er nach Berlin, alte Freunde besuchen. Schliesslich war er drei Jahre lang Präsident der Akademie der Künste in der deutschen Hauptstadt. Im Herbst will er nach Japan reisen, so etwas wie seine zweite Heimat. Bereits sein Debütroman, «Im Sommer des Hasen», erschienen 1965, spielt im Land der Kirschblüten. In Kioto, bei einem Aufenthalt im Goethe Institut, lernte er seine heutige Ehefrau Atsuko kennen. Sie, 20 Jahre jünger als Muschg, ist es, die den «Kleinbetrieb», das «Büro Muschg», wie sie scherzt, leitet.
Atsuko Muschg organisiert die Reisen ihres Ehemannes und koordiniert seine Medienauftritte. Sie weiss, wo die Bücher liegen, die Muschg gerade nicht zur Hand hat, und hilft ihm beim Erzählen von Anekdoten. Über ein Treffen mit Günter Grass oder das geschenkte Kunstwerk von Max Frisch, das im Wohnzimmer der Muschgs hängt. «Mein Mann ist ein historischer Mensch, ich sage ihm stets, er solle all die Begegnungen niederschreiben.»
Atsuko Muschg erinnert ihren Ehemann auch daran, dass er im Haus nicht rauchen soll. Das stört ihn nicht. Er sitzt zum Rauchen gern im Garten.