Seit dem abrupten Ende ihrer Bundesratskarriere 2003 ist es ruhig geworden um Ruth Metzler, 56. Die ehemalige Justizministerin der CVP gibt selten Interviews. Wenn, dann äussert sie sich nur zu ihrem beruflichen Engagement – sie ist Mitglied von verschiedenen Verwaltungs- und Stiftungsräten. Privates hält sie unter Verschluss. Von ihrer zweiten Eheschliessung mit dem UBS-Banker Stephan Zimmermann erfuhr die Öffentlichkeit über die amtlichen Zivilstandsnachrichten von Appenzell.
Und doch hat Ruth Metzler einem Interview mit der Schweizer Illustrierten zugestimmt. Weil das Jahr 2021 für sie – in politischer Hinsicht – ein besonderes ist: Die Schweiz feiert 50 Jahre Frauenstimmrecht – «als dritte Bundesrätin bin ich Teil dieser Geschichte». Ausserdem ist Metzler erstmals seit ihrer Abwahl politisch aktiv geworden: im Initiativkomitee der Individualbesteuerung.
Wir treffen Sie im «Bücherladen» in Appenzell AI. Im Schaufenster stehen Bücher zur Frauengeschichte, Metzler hat mehrere davon gelesen. Sie geht hier ein und aus, begrüsst die Ladenbesitzerin mit Vornamen. «Ich bin eine effiziente Leserin», sagt sie, «wenn ich lese, dann möglichst in einem Zug.»
Ruth Metzler, was war Ihr Lieblingsbuch als Mädchen?
Ich habe die Bücher von Federica de Cesco verschlungen. Ihre Geschichten von fremden Kulturen und starken Frauen eröffneten mir eine neue Welt. Und oft kamen Pferde darin vor. Ich bin gern geritten und hatte während mehrerer Jahre sogar selbst ein Pferd.
Welches Buch mögen Sie heute besonders?
«Die Wachsflügelfrau» von Eveline Hasler. Es ist die Geschichte von Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin Europas. Die Ungerechtigkeiten, die ihr widerfahren sind, haben mich berührt, aber auch beelendet.
Der Vater von Emilie Kempin-Spyri war dagegen, dass seine Tochter Jus studierte. Wie war das bei Ihnen?
Das Gegenteil war der Fall. Als Anwalt und Gerichtspräsident hatte mein Vater mein Jusstudium und später auch meine Ausbildung zur Wirtschaftsprüferin sehr unterstützt. Er sagte immer: «Du darfst nie von einem Arbeitgeber oder einem Mann abhängig werden.»
Heute setzen Sie sich persönlich für die Unabhängigkeit der Frau ein: Sie sind im Initiativkomitee für die Volksinitiative zur Individualbesteuerung. Warum?
Dieses Thema beschäftigt mich seit meiner Jugend. Bereits damals war mir klar, dass es sich für viele Ehepaare finanziell nicht lohnt, wenn beide arbeiten. Meine Mutter arbeitete immer Teilzeit, zuerst in der Anwaltskanzlei meines Vaters. Ihr Lohn ging zu einem grossen Teil für die Steuern weg. Das Zweiteinkommen eines Ehepaars – meist jenes der Frau – wird im heutigen Bundessteuersystem immer noch überproportional besteuert.
«Wir sind uns durchschnittliche Männer gewohnt, aber erwarten von Frauen, dass sie überdurchschnittlich sind»
Was bringt es, wenn jede und jeder seine eigene Steuererklärung ausfüllt?
Gleichstellung! Diese ist erst erreicht, wenn jede Person gleich besteuert wird, egal ob verheiratet, in einer eingetragenen Partnerschaft oder alleinstehend. Ausserdem bin ich überzeugt, dass zahlreiche Frauen, wenn sie steuerlich nicht mehr dermassen bestraft werden, ihr Pensum erhöhen oder gar Vollzeit arbeiten werden. Wir müssen das brachliegende Potenzial von gut ausgebildeten Frauen besser nutzen. Das heisst aber auch, dass genügend Kitas und Tagesschulen zur Verfügung stehen.
Wie haben Ihre Eltern die Betreuung gelöst, als Sie klein waren?
Wir hatten während vieler Jahre Haushaltslehrtöchter, die Mueti entlasteten. Und wir waren in der komfortablen Situation, dass sich die Anwaltskanzlei meiner Eltern im gleichen Haus befand. Wir konnten Mueti im Notfall immer erreichen.
Viele Unternehmen schreiben «familienfreundlich» auf ihre Fahne, aber setzen um 18 Uhr Sitzungen an.
Es braucht ein Umdenken in den Köpfen. Ich erinnere mich, als ich vor 15 Jahren für Novartis in Paris arbeitete: Es war selbstverständlich, dass Sitzungen so festgelegt wurden, dass Eltern mit Kindern keine Konflikte hatten. Was wir brauchen, sind flexible Arbeitszeiten und -pensen. Als Vizepräsidentin der Axa Schweiz bin ich stolz darauf, dass in unserer Geschäftsleitung zwei Personen Teilzeit arbeiten.
Geschäftsleitung ist ein gutes Stichwort. Warum gibt es so wenig Frauen im Topmanagement?
Frauen sind in den Datenbanken der Headhunter noch immer in der Unterzahl. Sie drängen sich weniger vor und trauen sich weniger zu als Männer. Ausserdem werden sie für Toppositionen noch zu oft von aussen geholt. Ich freue mich immer, wenn Frauen intern ihren Weg machen. Wichtig ist, dass wir von Frauen nicht mehr erwarten als von Männern. Wir sind uns durchschnittliche Männer gewohnt, erwarten aber von Frauen, dass sie überdurchschnittlich sind.
Sie waren oft die einzige Frau unter Männern. Was ist Ihnen aufgefallen?
Vor 15 Jahren gab es noch Sitzungen, in denen die Sprache militärisch geprägt war. Ich sagte mehrmals: «Könnte man das bitte für jene übersetzen, die keinen Militärdienst geleistet haben?» Wir brauchen eine Kultur, die das Anderssein zulässt. Und damit meine ich nicht nur Frauen, sondern vielfältige Charaktere und Profile.
Sie waren lange gegen die Frauenquote – und …
… heute bin ich dafür. Es muss endlich vorwärtsgehen, mir genügt die langsame Entwicklung der letzten 20 Jahre nicht, und zum Teil stagnieren die Zahlen sogar wieder. Meine Geduld ist am Ende.
In den letzten Monaten sind zahlreiche Bücher zu 50 Jahren Frauenstimmrecht erschienen. Sie haben mehrere gelesen. Was interessiert Sie an der Vergangenheit?
Mich beschäftigt vor allem, dass Frauen so lange nicht gewählt werden konnten. Sie waren aus der Politik ausgeschlossen. An den Schalthebeln der Macht sassen ausschliesslich Männer.
Vor 22 Jahren wurden Sie als erst dritte Frau in den Bundesrat gewählt. Welche Bedeutung hatte Ihre Wahl?
Sie stand im Zeichen einer Aufbruchsstimmung unter Frauen und Jungen. Meine Wahl zeigte, dass es möglich ist, mit 34 Jahren Bundesrätin zu werden – was vorher unmöglich schien. Heute ist die Zahl der jungen Ministerinnen und Minister ja vor allem auch im Ausland deutlich höher.
Sie sagten kürzlich: Hätten damals alle Frauen für Sie gestimmt, wären Sie Bundesrätin geblieben. Ist die schlimmste Feindin einer Frau die Frau?
Nein, das kann ich nicht bestätigen. Aber: Wer mehr Frauen fordert – egal in welchem Gremium –, muss auch Frauen unterstützen, die andere Meinungen vertreten. Wichtig ist gelebte Vielfalt. Nehmen Sie Ruth Dreifuss und mich: Sehr unterschiedliche Frauen haben sich durch uns vertreten gefühlt.
Wenn Sie heute zurückschauen: Sind Sie erstaunt über Ihren jugendlichen Mut?
Und ob! Wobei ich immer mutig war, aber zugegebenermassen nicht abschätzen konnte, was alles auf mich zukommen würde. Ich bin stolz darauf, dass ich diesen Weg gegangen bin. Auch wenn der Wahlkampf ein Gang durch das Stahlbad war.
Welchen Rat geben Sie jungen Politikerinnen von heute?
Ich möchte junge Frauen vor allem davon überzeugen, dass Politik auch lustvoll sein kann. Man kann wirklich etwas bewegen! In diesen Tagen erscheint das Buch «In die Politik gehen» des Basler Regierungsrats Conradin Cramer. Ich empfehle es allen, die wissen wollen, wie Politikerinnen ticken sollten.
Welches Buch liegt auf Ihrem Nachttisch?
«Der Pakt gegen den Papst». Mich interessiert, wie der Vatikan funktioniert. Seit ich Präsidentin der Stiftung der Päpstlichen Schweizergarde im Vatikan bin, setze ich mich vertieft damit auseinander.
Wann gibts die erste Gardistin?
Heute sind die Platzverhältnisse zu eng. Deshalb bestimmt nicht, bevor die neu geplante Kaserne steht. Aber das muss letzten Endes der Papst entscheiden.