Chrissy Angliker (41) füllt einen Winterthurer Masskrug mit Wasser. Die Wohnung, in der sie mit ihrem amerikanischen Ehemann Mike Hanne (38) lebt, duftet nach Kerzen und Weihrauch. Durch die Fenster dringt Brooklyns Klangkulisse: Autohupen, laute Gespräche, das Bellen eines Hundes. An den Wänden des Wohnzimmers Tschäggättä-Holzmasken aus dem Lötschental. «Ich mag es, wenn mein Zuhause ein Stück Schweiz in sich trägt.»
Seit 25 Jahren lebt die Winterthurerin in den USA. Für eine Kunstschule zog sie nach Boston. «In der Schweiz nahm man Künstler als Beruf nicht ernst. Meine Lehrerin sagte: ‹Du bist kein Picasso, mach lieber was Anständiges.›» Für Angliker ist Kunst jedoch weit mehr als blosses Vergnügen – es ist ihre Sprache. «Mich schriftlich ausdrücken fiel mir schwer. Lieber zeichnete ich Comics, um zu kommunizieren.»
Warm eingepackt für die kalten Temperaturen: Das Winter-Wetter ist sich die Winterthurerin ja schon aus der Schweiz gewohnt.
Yè FanAls Tochter einer amerikanischen Mutter und eines Schweizer Vaters kannte Chrissy Angliker die USA von Besuchen, doch als sie allein auswanderte, hatte sie einen Kulturschock: «Ich verstand den Sarkasmus der Lehrer nicht. Ich dachte, sie seien gemein.» Doch sie fand ihren Platz – nicht zuletzt dank der Offenheit der Schule. «Es war wie eine Utopie. Die Leute konnten sein, wer sie wollten.»
Die Entfernung zu ihrer älteren Schwester und ihren Eltern machte ihr aber zu schaffen. «Wir hatten nur E-Mails und Briefe, um in Kontakt zu sein. Ab und zu ein Telefongespräch. Doch ich wusste, ich muss da sein, wo meine Kunst lebt.»
Der Sprung in den Big Apple
Als Angliker die Kunstschule absolviert hatte, zog sie nach New York und studierte an der Pratt University Industriedesign. Eine pragmatische Wahl, die sie sechs Jahre vom Malen abhielt. Doch sie fand zurück zur Kunst – und zu sich selbst. «Ich malte ein Selbstporträt. Als die Farbe zu tropfen begann, weinte ich. Erst aus Frustration, die Kontrolle verloren zu haben. Danach, weil ich begriff, wie tief diese Tropfen mich berühren konnten.»
Ihre Kunst: ein Dialog zwischen Kontrolle und Chaos. «Die Farbe macht, was sie will. Es ist wie im Leben: Du kannst nicht alles kontrollieren, aber du kannst eine Beziehung dazu aufbauen.»
Für die Grundierung klatscht Angliker weisse Farbe auf die Leinwand. Meistens arbeitet sie jedoch mit Plastiklöffeln.
Yè FanIhre Werke kosten zwischen 2000 und 30 000 Franken. Sie sind auch in der Schweiz zu sehen, aktuell in der Engadiner Kunstgalerie Stalla Madulain, ab Mai in der Galerie 94 in Baden AG. «Ich bin neidisch, dass meine Bilder in der Schweiz sind und ich nicht.» Sie vermisse die Schweizer Luft, das Essen, das Gefühl von Zuhause sowie ihre Familie und Freunde. Sei sie in der Schweiz, fühle sie sich geerdet. «Es bringt alles ins Gleichgewicht.»
New York hingegen gebe ihr Energie. «Oft zu viel davon. Ich entlade sie im Atelier, verwandle sie in Kunst.» Der Stadtbezirk Brooklyn inspiriert sie besonders. «Er verändert sich ständig. Als ich hierherzog, war Brooklyn nicht cool – eher das Gegenteil. Ich lernte schnell, wie man sich bewegen muss.»
In einer Stadt, die sich stets wandelt, ist Stillstand keine Option. «Du kannst hier nur leben, wenn du einen Zweck hast.» Das Angebot an Künstlern ist riesig, doch Angliker weiss um ihre Einzigartigkeit. «Ich will Teil des Gesprächs sein – nicht versuchen, es zu übernehmen.»
Die Heimat ruft leise
Ob sie je zurück in die Schweiz zieht? «Ich liebe New York, frage mich aber manchmal, wann genug ist – besonders in einem Land mit Donald Trump als Präsidenten.» Eine Rückkehr schliesse sie nicht aus.
Ihr Mann Mike, den sie vor über zehn Jahren durch die Arbeit kennenlernte, könnte sich ein Leben in der Schweiz durchaus vorstellen. «Ich mag die Natur, Chrissys Liebsten und natürlich Fondue – wobei wir das auch hier regelmässig geniessen», sagt der Lizenzmanager und nimmt einen Schluck aus seiner Tasse mit der Aufschrift «I’m living a Fairytale, I married a Swiss» («Ich lebe ein Märchen, ich bin mit einer Schweizerin verheiratet»).
Chrissy und ihr Mann Mike vor dem Herzstück ihrer Wohnung – den Lötschentaler Masken. «Auf die Sammlung bin ich sehr stolz.»
Yè FanEr schmunzelt, als er von Chrissys Sprachgewohnheiten erzählt. In ihrem Englisch ist ein leichter Schweizer Akzent hörbar – und umgekehrt. «Süss ist, wie sie Wörter benutzt, die bei Amerikanern längst ausser Mode sind. Zum Beispiel bezeichnet sie ihre Schweizer Freunde als ‹Homies›.» Dann verschwindet er in sein Heimbüro, Angliker ins Atelier.
«Bye, baby, I’ll be back for lunch» («Tschüss, Schatz, ich bin zum Mittagessen zurück»), ruft sie und schliesst die Tür. «Mein Studio ist nur zehn Minuten entfernt. Ich fühle mich dort echt wohl.» Atelier und Wohnung sind ihre Oasen – ein bisschen Chaos, ein bisschen Kontrolle, genau wie ihre Kunst.
Das Atelier der Künstlerin befindet sich in Brooklyn. Hier entstehen ihre farbenfrohen Werke, meist begleitet von Musik.
ZVG