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  4. Warum SP-Sicherheitspolitikerin Priska Seiler Graf heute keine Armeegegnerin mehr ist
SP-Sicherheitspolitikerin Seiler Graf

«Meine Meinung zur Armee hat sich gewandelt»

Chaos-Tage im VBS, Streit um Kampfjets im Parlament, heikle weltpolitische Lage. Was Priska Seiler Graf, Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission, von Bundesrat Pfister erwartet und wie sie selber ins Schussfeld russischer Propaganda geriet. 

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Priska Seiler Graf auf dem Zürcher Lindenhof vor der Heldinnenfigur Hedwig ab Burghalden. «Als linke Sicherheitspolitikerin musste ich mich mehr beweisen.»

Priska Seiler Graf auf dem Zürcher Lindenhof vor der Heldinnenfigur Hedwig ab Burghalden. «Als linke Sicherheitspolitikerin musste ich mich mehr beweisen.»

Nik Hunger

Mit Körperpanzer und Dolch steht Hedwig ab Burghalden als Brunnenfigur auf dem Zürcher Lindenhof, asiatische Touristen nehmen sie ins Fotovisier. «Ich muss zugeben, ich kannte ihre Geschichte nicht», sagt SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf (56) die in Kloten aufgewachsen ist. Hedwig steht für die Wehrhaftigkeit der Zürcherinnen im Jahr 1292. Damals hat sie sich mit anderen Frauen bewaffnet auf dem Lindenhof versammelt, um Herzog Albrecht von Österreich und seinen Truppen ein grosses Heer vorzutäuschen. Der Habsburger zog sich zurück. «Ganz schön clever», kommentiert die Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission.

Frau Seiler Graf. Hätte sich Ihre Partei in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, stünde die Schweiz heute ohne Armee, ohne Luftwaffe und ohne Dienstpflicht da.

Das ist jetzt ein provokanter Einstieg (lacht). Meine Partei kommt aus einer stark pazifistischen Bewegung und hat das sinnlose Aufrüsten immer infrage gestellt. Natürlich wussten wir, dass etwa die Abschaffung der Dienstpflicht nicht mehrheitsfähig ist. Aber dass man darüber nachdenkt, muss erlaubt sein. Zudem waren wir nicht das einzige Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg die Armee runtergefahren hat.

SP-Co-Präsident Cédric Wermuth hält das «Fernziel» Armeeabschaffung weiterhin für richtig. In Anbetracht der heutigen Weltlage illusorisch!

Ich finde es richtig, eine Vision von einer Welt ohne Armee zu haben. Auch ich habe ein pazifistisches Herz. In der aktuellen geopolitischen Lage ist die Abschaffung der Armee allerdings nicht realistisch. Das sieht auch Herr Wermuth so.

In der «Sonntagszeitung» forderten Sie, den Passus zur Armeeabschaffung aus dem Parteiprogramm zu streichen.

Das stimmt. Weil der Passus mir und anderen SP-Sicherheitspolitikerinnen immer vorgehalten wird. Allerdings haben wir momentan Wichtigeres zu tun, als über diesen Passus zu streiten.

Nächste Woche startet Martin Pfister als neuer VBS-Chef. Ist er der Richtige für diese Herkulesaufgabe?

Ja, ist er.

Warum?

Er ist jemand, der Ruhe ins Gremium bringt, integrativ arbeitet und das Kollegialitätsprinzip lebt. Das ist sehr nötig, wenn man den heutigen Bundesrat anschaut. Und als Oberst kennt er die Armee gut. Vor der Wahl habe ich ihn gefragt, was er im VBS zuerst anpacken würde.

Was antwortete er?

Dass er zuerst nichts unternehmen will.

Nichts?

Bevor er etwas anpackt, will er sich alles zeigen lassen, mit den Leuten reden und dann eine saubere Analyse machen. Aufgrund dieser Analyse will er die Konsequenzen ziehen. Das hat mich völlig überzeugt.

Armeechef weg, Nachrichtendienstchef weg, schlechte Ausrüstung, fehlende Piloten. Da muss doch ein Katapultstart hin!

Klar muss Martin Pfister handeln. Aber mit dem Bulldozer ins VBS einzufahren und Geschirr zu zerschlagen, macht keinen Sinn. Zudem ist er neu in Bern – wir müssen ihm die ersten 100 Tage zum Einleben geben. Dann erwarte ich schon, dass er Pflöcke einschlägt.

Sind Sie bereit, der Armee mehr Geld zu genehmigen?

Nur wenn die zusätzlichen Ausgaben für die Verteidigung nicht auf Kosten anderer Bereiche wie etwa der internationalen Zusammenarbeit oder des Personals gehen.

Woher soll denn das Geld kommen?

Wir müssen die Schuldenbremse lockern.

Die Armee erhält bis 2028 rund 30 Milliarden Franken. Bis 2032 soll dieser Betrag auf rund 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen.

Die Knüpfung ans BIP halte ich sowieso für sehr fragwürdig. Zudem: Die Beschaffungsprojekte haben einen sehr langen Vorlauf. Und wir sind natürlich nicht die Einzigen, die jetzt aufrüsten, sprich die Schweiz muss sich eingliedern. Darum brauchen wir dringend eine sicherheitspolitische Strategie. Es bringt nichts, jeden Bereich der Armee raufzufahren, es braucht eine Priorisierung. Die fehlte bisher.

Stand jetzt: Was würden Sie priorisieren?

Die Cyberabwehr und die Luftraumverteidigung.

Linksgrüne Politiker fordern nun aber eine Überprüfung des Kaufs der F-35-Kampfjets aus den USA.

Ich habe selber immer gegen den F-35 gekämpft. Wir brauchen zwar unbedingt einen neuen Kampfjet. Der F-35 ist aber der falsche Typ für die Schweiz, weil wir uns in eine grosse Abhängigkeit zur USA begeben.

Der Luftwaffenchef Peter Merz warnt, ein Ausstieg aus dem Deal wäre für die Sicherheit der Schweiz fatal.

Meine Partei will eine Auslegeordnung vom Bundesrat. Wir sind ja nicht die Einzigen, die den Deal hinterfragen: Auch Portugal oder Kanada überlegen sich einen Ausstieg, weil sie die USA nicht mehr zwingend als Verbündete sehen.

Die 56-Jährige sitzt seit mehr als neun Jahren für die SP im Nationalrat, davor war sie zehn Jahre Kantonsrätin in Zürich. Seiler Graf ist ausgebildete Lehrerin und diplomierte Ballettpädagogin, verheiratet und hat drei Kinder.

Die 56-Jährige sitzt seit mehr als neun Jahren für die SP im Nationalrat, davor war sie zehn Jahre Kantonsrätin in Zürich. Seiler Graf ist ausgebildete Lehrerin und diplomierte Ballettpädagogin, verheiratet und hat drei Kinder.

Nik Hunger

Sie wurden 2015 in den Nationalrat gewählt. War die Sicherheitskommission Ihre Wunschkommission?

Bei den Linken stand die SIK damals sicher bei niemandem auf der Wunschliste zuoberst (lacht). Ich hatte sie aber immerhin auf den dritten Platz gesetzt. Ich war vorher zehn Jahre Sicherheitsvorsteherin in der Stadt Kloten. Da hatte ich zwar mehr mit der Polizei, der Feuerwehr oder dem Zivilschutz zu tun, aber die Affinität fürs Thema war da. Freudensprünge habe ich dann aber nicht gemacht, weil doch 90 Prozent Armeethemen sind.

Sie hätten später wechseln können …

… was ich nicht tat. Ich sagte mir: Wenn ich schon in der SIK bin, mache ich das Beste daraus. Heute empfinde ich die Sicherheitspolitik als hoch spannend. Es ist nicht richtig, wenn die SP sagt, das Thema Armee gehe sie nichts an. Es braucht die linke Stimme. Natürlich hatte auch ich Vorurteile, aber meine Meinung hat sich gewandelt.

Inwiefern?

Ich habe gesehen, wie vielfältig das VBS aufgestellt ist und was für interessante Menschen dort arbeiten – auch in der Armee. Unsere Kommission macht ja regelmässig Truppenbesuche. Wenn ich sehe, was Offiziere in unserem Milizsystem leisten, habe ich viel Respekt.

Spüren Sie bei den Besuchen auch eine Unzufriedenheit?

Absolut. Schwierig ist oft die Vereinbarkeit mit dem zivilen Leben, gerade beim WK. Als mein Mann in die RS ging – er war Radfahrer –, litt er darunter, dass man nicht auf die Bedürfnisse der Armeeangehörigen einging. Es wurde befohlen und ausgeführt. Das war auch ein Grund, warum er mit dem Militär weitermachte und Mitglied des Psychologisch-Pädagogischen Dienstes der Armee wurde. Inzwischen hat die Armee viele Fortschritte gemacht: Heute gibt es ECTS-Punkte für das Studium, mehr Freiheit zum Lernen. Aber es braucht noch mehr Unterstützung.

Als Kommissionspräsidentin müssen Sie auch mal einen Stichentscheid fällen. Etwa letzten Sommer, als Sie unter Auflagen die Weitergabe von Waffen an die Ukraine bewilligten. Der Kreml bezeichnete Sie darauf als Kriegstreiberin.

Ja, ich war im Schussfeld des Fernsehsenders Russia Today. Leute schrieben mir plötzlich Mails, wie ich fordern könne, Russland zu beschiessen. Das habe ich natürlich nie gesagt. Aber es machte mich nachdenklich, dass solche Desinformationskampagnen tatsächlich Fuss fassen können. Gezielte Desinformation ist momentan das grössere Sicherheitsrisiko, als dass russische Panzer am Rhein stehen.

Was verstehen Sie unter der Schweizer Neutralität?

Neutral sein heisst nicht, keine Stellung zu beziehen. Wo Völkerrecht gebrochen wird – wie etwa in der Ukraine –, müssen wir dem Überfallenen helfen. Der Schweiz steht gut, wenn sie Anwältin des Völkerrechts ist.

Riskiert man mit einer solch flexiblen Neutralität nicht, dass man ins Visier eines Aggressors wie eben Russland gerät?

Ich glaube, dass Wegducken heute nicht mehr geht. Da hat die Schweiz ja eine lange und erfolgreiche Tradition. Unsere Nachbarn signalisierten in den letzten Jahren aber klar, dass sie nicht mehr akzeptieren, wenn die Schweiz «schlüpft». Die Frage, wo wir hingehören, wird immer virulenter. Und die Antwort ist klar: zu Europa.

Sind Sie für den EU-Betritt?

Ich bin sehr EU-freundlich, aber in der momentanen Situation ist ein Beitritt kein Thema. Wichtig ist in erster Linie, die Bilateralen III ins Trockene zu bringen.

Um zu Hedwig ab Burghalden zurückzukommen: Glauben Sie, dass es mehr Frieden auf der Welt gäbe, wenn mehr Frauen an der Macht wären?

Diese Frage habe ich mir tatsächlich schon oft gestellt. Ich behaupte Ja. Aber die Frauen konnten bisher auch nicht den Beweis erbringen. Ich glaube, Frauen würden mehr den Dialog pflegen, sodass der eine oder andere Konflikt erst gar nicht entstehen würde.

Jessica Pfister
Jessica PfisterMehr erfahren
Interview: Jessica Pfister am 29. März 2025 - 12:00 Uhr