Es ist alles so stimmig hier. Als ob es auf mich gewartet hätte.» Entzückt inspiziert Mia Aegerter (46) jede Ecke von Zimmer Nummer 1 im Hotel Aux 4 Vents in Freiburg («mein absoluter Lieblingsort in der Stadt»). Zu jedem Gegenstand fällt ihr eine ihrer Songzeilen ein. Und zu jedem Song gibts eine Geschichte. Wenn Mia sie erzählt, hat man das Gefühl, sie erlebt sie nochmals. Im Hier und Jetzt.
«Hie u jetzt» ist 2003 der Anfang einer grossen Musikkarriere. Eine Unbekannte ist Mia Aegerter da schon längst nicht mehr. Ihre Rolle in der deutschen Über-Soap «Gute Zeiten, schlechte Zeiten» hat sie drei Jahre zuvor über Nacht ins Scheinwerferlicht katapultiert. In «Achtung, fertig, Charlie!» – bis heute einer der erfolgreichsten Schweizer Kinofilme aller Zeiten – spielt sie neben Melanie Winiger die Hauptrolle. Und liefert den Titelsong. 36 Wochen lang hält sich «Hie u jetzt» in der Hitparade. Mia veröffentlich vier Mundart-Alben, moderiert beim deutschen Sender ZDF «Bravo TV», sitzt bei SRF in der «MusicStar»-Jury, heimst einen Prix Walo, einen Swiss Award und einen Viva Comet ein.
«Säg mer, was es bringt, wenn i es Läbe läb, wo n i nit würklich glücklich bi. Aber i läb es glich, will sisch e guets Läbe, und jede möchtis läbe für mi.» Die Anfangszeilen von «Hie u jetzt» sind Programm. «Rückblickend war ich nicht besonders geerdet zu dieser Zeit», sagt Mia. «Der Erfolg, der von null auf hundert kam, hat mich überfordert.» Zudem entspricht ihr Popsternchen-Image nicht mehr ihrer Eigenwahrnehmung. Mia zieht erstens die Reissleine, zweitens sich aus der Öffentlichkeit zurück und drittens nach Berlin, um das zu tun, was sie am liebsten macht: Songs schreiben. Und zwar erst mal nicht für sich selbst, sondern für andere Künstlerinnen und Künstler, von den Prinzen über Max Giesinger bis Helene Fischer. «Ich hab schnell gemerkt: Das Texten, das Spielen mit Sprache, das ist total mein Ding.»
«Vergeud nicht deine Zeit, lass nichts ungewagt, das Leben schmilzt in deiner Hand wie ’n Eis an ’nem Sommertag.» Den Clip zu «Eis an ’nem Sommertag» dreht Mia hier, in der Auberge aux 4 Vents. Das Lied handelt von der Flüchtigkeit der Zeit und davon, sich Träume zu erfüllen. Mia geniesst die wiedergefundene Anonymität, geht immer wieder auf Reisen. Allein. «Anfangs war das beängstigend. Aber wenn du deine Komfortzone stets mitnimmst, lernst du nie Neues kennen.»
Sie experimentiert damit, möglichst «leicht» zu reisen, zieht auch mal nur mit Handy, Pass und Kreditkarte los. «Sonnencreme hab ich am Strand geschnorrt», erzählt sie lachend. Just als sie dran ist, die Erfüllung ihres grössten Traums zu planen – eine Weltreise –, verliebt sie sich. Der Songwriter und Produzent Martin Fliegenschmidt (42) ist nicht nur für Mia Feuer und Flamme, sondern auch für den Trip. So zieht das frisch verliebte Paar los und meistert sowohl die Herausforderungen, die eine junge Beziehung mit sich bringt, als auch die der fremden Kulturen. «Wir zofften uns quasi einmal über den Planeten», meint Mia laut lachend.
«Wir sehn die Welt durch rosarote Scherben nach dem grossen Schmetterlingssterben. Wenn unsre Bäuche Friedhöfe werden, wird sich zeigen, ob das hier Liebe ist.» – «Das grosse Schmetterlingssterben» beschreibt die Phase, in der die erste Verliebtheit vorbei ist und sich entscheidet, ob eine Beziehung hält oder nicht. Bereits auf Reisen gründen Mia und Martin das Bandprojekt Mia, Myself & I und veröffentlichen Songs. Nach einem Jahr kehren sie nach Berlin zurück mit vielen musikalischen Ideen in den Köpfen.
Dann kommt Covid. Statt eine Platte aufzunehmen, wird Mia im Alter von 44 Jahren schwanger. «Der Kinderwunsch war vorher nicht extrem präsent. Aber ich habe auch nie bewusst damit abgeschlossen. Zudem wollte ich nur mit einem Partner eine Familie, der sich vorstellen kann, die Pflichten fifty-fifty aufzuteilen.» «Dass sich alles ändert, hab ich nie geglaubt. Jetzt brichst du täglich neue Türen in mir auf.» – «Mein Herz gehört mir schon lang nicht mehr» ist einer von mehreren Songs für den mittlerweile zweijährigen Joshua Kaleo. «Er hat mein Leben total auf den Kopf gestellt. Durch ihn bekommt alles eine neue Perspektive. Es stimmt wohl, dass man mit der Geburt seines ersten Babys auch selbst neu geboren wird.»
«Bye bye mein altes Ich. Keine Angst, ich vergess dich nicht.» Sie brauche keine Schutzmauern mehr und keine Schwermut, singt Mia Aegerter im Titelsong ihres aktuellen Albums. «Aber auch das Bohème-Leben ist vorbei», meint sie lächelnd. Der Fokus liegt auf der Familie. «Und je älter ich werde, desto mehr zieht es mich zurück in die Schweiz.» So kann sie sich gut vorstellen, ihren Sohn in Freiburg einzuschulen. «Aber das ist noch Zukunftsmusik.» Das Leben findet eben nur an einem Ort und zu einer Zeit statt: hie u jetzt.