Auf dem grossen Bildschirm füllt sich der Ladebalken, ehe der erste Ton zu Bonnie Tylers Hit «Don’t Turn Around» erklingt. Michael Steiner (55) greift nach dem Mikrofon. Die bunten Lichter im Raum pulsieren im Takt. Hier in seiner Karaokebox, in unmittelbarer Nähe der Zürcher Europaallee, ist er nicht der gefeierte Regisseur von Kinohits wie «Mein Name ist Eugen» oder «Wolkenbruch». Hier ist er einfach nur Michael, ein Typ, der gern singt. Laut. Mit Herz. Ohne Rücksicht auf falsche Töne. Für einen Moment ist er in einer anderen Welt – bis sich die Tür öffnet. Samantha (49) steht im Rahmen. «Wieder im Element?», fragt ihn seine Frau und schnappt sich das zweite Mikrofon. Ohne zu zögern, steigt sie in den Refrain ein. Ihre Stimmen vereinen sich – nicht perfekt, aber voller Energie. Sie improvisieren, lachen über Textpatzer.
Bekannte Gesichter im Zürcher Kreis 4: Immer wieder machen Passanten bei den Steiners halt für einen kurzen Schwatz.
Joseph KhakshouriVom Hobby zum Business
Der Filmemacher verbringt täglich rund eine halbe Stunde in seinem Reich. Die Passion und die Idee für das neue Geschäft kommen nicht von ungefähr. Er hat jahrelang auf den Philippinen gelebt und gelernt, dass Singen nicht nur Unterhaltung ist, sondern ein sozialer Kitt. «Wer in Asien am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will, kommt an Karaoke nicht vorbei», erinnert er sich und führt aus: «Klar hat es zu Beginn Überwindung gebraucht, doch mit der Zeit legt man Scham und Vorbehalte ab.» Heute hat er keine Scheu mehr und weiss, welche Songs passen: «Stücke von Elvis sind ideal für meine Stimmlage. Es darf aber auch mal etwas aus dem Pop-Genre oder sonst was sein. Nur mit Schlager habe ich Mühe», sagt er und lacht.
Bereits Ende des letzten Jahres hat der Zürcher das ehemalige Podcast-Studio übernommen. Ideale Voraussetzungen, da es schon schalldicht war. «Da wir Schweizer oftmals verklemmt sind, wird die Privatsphäre besonders geschätzt. Bei uns ist man unter Freunden allein, weshalb man auch nicht ewig auf den bestellten Song warten muss wie in einer Karaoke-Bar.»
Seine «Spassbox» ist an den Wochenenden gut gebucht. Der Verdienst wird derzeit reinvestiert, um allenfalls später zu expandieren.
Joseph KhakshouriLiebe geht durch den Magen
Kaum ist der letzte Ton verklungen, verlassen Steiners den kleinen Raum und treten hinaus in den benachbarten Imbiss – Samanthas Reich. Leichter Limettenduft liegt in der Luft. Die Wände sind bunt, die Atmosphäre herzlich. Im Hintergrund stehen Tequila- und Mezcal-Flaschen in Reih und Glied, vorne in der Theke die frischen Zutaten für Tostadas – knusprige Tortillas, die belegt werden. «Ich liebe die Gastronomie», sagt sie, während sie mit routinierten Handgriffen die reifen Avocados entkernt und in feine Streifen schneidet. Für sie ist dieser Ort mehr als ein Geschäft, es ist eine Hommage an ihre Heimat. Als sie mit fünf Jahren aus Mexico City in die Schweiz kam, war gutes Essen das Bindeglied zwischen den Kulturen. Heute serviert sie, was sie selbst am liebsten isst: «Einfache mexikanische Hausmannskost.»
Mit der Entwicklung ihrer Betriebe sind die beiden mehr als zufrieden, trotzdem ist die Zukunft ungewiss. «Unsere Geschäfte sind nur bis 2026 sicher, danach wird das ganze Haus abgerissen, und wir müssen raus», erklärt Steiner. Doch ihm ist das egal. «Ich liebe es, dass ich mich immer wieder neu erfinden muss. Das hält mich jung.» Sorgen um die Zukunft? Fehlanzeige. «Wer sich übers Alter Gedanken macht, hat die Freude am Leben verloren», sagt der zweifache Vater. Auch in finanzieller Hinsicht sind die beiden entspannt, wie Samantha, seine zweite Frau, verrät: «Wir waren mit Geld nie verschwenderisch oder haben über dem Budget gelebt. Wir sind einfach mit wenig glücklich.» Obwohl das Filmbusiness gerade harzig läuft, hält der Regisseur daran fest: «Das ist meine grösste Leidenschaft. Neue Drehbücher sind bereit, und ich bin sicher, dass die Filme irgendwann auch finanziert werden.»
Schnickschnack hat in den Tostadas von Samantha Steiner nichts verloren: «Wichtig ist, dass es wie beim Grosi daheim schmeckt.»
Joseph KhakshouriEin Leben nach eigenem Takt
Bis dahin machen die beiden weiterhin ihr Ding – ohne grossen Masterplan, dafür mit umso mehr Leidenschaft. Dies sei auch das Geheimnis ihrer Liebe: «Wir ticken gleich und können das Gegenüber lesen. Das ist es, was unsere Ehe ausmacht», erklärt Samantha. «Wir sind zwei Menschen mit zwei Stimmen und einem gemeinsamen Leben.» Und sie nehmen sich die Freiheit, als Ehepaar einfach den Moment zu geniessen, als Geschäftspartner von Grossem zu träumen und als Duettpartner einen Song nach dem anderen zu rocken.