Stolz präsentiert Elle (22) in ihrem Elternhaus in Lampenberg BL die Musiksammlung ihres Vaters. Sie kramt eine ihrer liebsten Platten hervor: «Dynasty» von Kiss. Das Album ist schon älter, frech und rockig – das pure Gegenteil der Sängerin. «Diese CDs und Schallplatten haben mein Musikinteresse schon früh geweckt.» Lief keine Musik, fing sie an zu weinen. Für die Familie sei es keine Überraschung gewesen, dass Michèle, wie Elle mit bürgerlichem Namen heisst, einmal Sängerin wird. Ihr Vater ist es denn auch, der sie 2013 bei der ersten Staffel der deutschen Fernsehsendung «The Voice Kids» anmeldet. Michèle gewinnt.
Auf einen Schlag verändert sich der Alltag der damals 13-Jährigen. Unter der Woche besucht sie die Schule, am Wochenende fliegt sie für Konzerte nach Deutschland. Nach einem Jahr verblasst ihr Ruhm. Sie absolviert eine Ausbildung zur Coiffeuse. «Ich habe die Tage meiner Lehre runtergezählt.» Denn Bircher wurde von ihren Arbeitskollegen gemobbt. «In solchen Momenten habe ich meine Augen geschlossen und sah mich auf einer grossen Bühne.» Vor fünf Jahren wird Michèle Birchers Leben auf den Kopf gestellt: Im Halsbereich wächst ein Tumor. «Die Ärzte meinten, dass ich bei der Operation vielleicht meine Stimme verliere.» Welchen Lauf ihr Leben dann genommen hätte, will sie sich nicht vorstellen. «Musik ist mein allerbester Freund. Ohne Musik überlebe ich nicht», sagt sie. Der Eingriff verläuft reibungslos. Statt der vorgesehenen Ruhepause von drei Monaten widmet sich Michèle bereits einen Monat nach der Operation wieder ihrer Leidenschaft und singt für den Eurovision Song Contest 2017 vor. Gereicht hat es knapp nicht. Ausser der Narbe und einem symbolischen Tattoo – eine Musiknote mit Mikrofon am Handgelenk – trägt die Sängerin keine Spuren des gutartigen Tumors an ihrem Körper.
Mit schnellen Schritten schreitet sie nun durch ihr Zuhause, direkt zum Luftschutzkeller. Problemlos öffnet die 1,53 Meter grosse Sängerin die schwere Tür. Dahinter versteckt sich ihr Reich. «Das ist mein eigenes Studio.» Mit ihrem Vater habe sie ihren Arbeitsplatz erbaut und mit einem Teil des Gewinns von «The Voice Kids», rund 15'000 Franken, finanziert. Hier macht sie seit einem Jahr unter dem Künstlernamen Elle – abgeleitet von Michèle – Rock-Pop-Musik. «Der Sinn dahinter ist, dass Leute mich nicht mehr mit der herzigen Michèle von früher assoziieren.» Ausserdem sei Elle ihre Bühnenpersönlichkeit. «Eine richtige Rampensau», meint sie. Die private Michèle hingegen mag weder tanzen noch sich stark schminken.
Elle steigt auf einen Klavierhocker, greift nach der Ukulele auf dem hohen Regal. «Zum Glück bin ich Kletterin», erklärt sie. Und nicht nur das: Elle surft, geht in Kletterhallen und betreibt so ziemlich jede Sportart, die sie entdeckt. Dabei packt sie der Ehrgeiz genau wie bei der Musik. «Meinen Perfektionismus müsse ich etwas ablegen, riet mir Marc Sway nach unserer ersten gemeinsamen Show. Das hat mir geholfen.» Die beiden sind seit ihrem Auftritt bei «Art on Ice» befreundet und verbringen Zeit zusammen, beispielsweise auf der Skipiste. «Sport liefert Energie und hilft in schwierigen Zeiten.»
Trotzdem hadert die Sängerin zurzeit etwas. «Nach so einer Überdosis an Adrenalin vor Tausenden Leuten im Publikum fühlt es sich komisch an, wieder im Kinderzimmer zu sein.» Doch diese Phase dürfte kaum von langer Dauer sein. Denn Elle hat einiges vor: «Ich bin bald beim Tourneetheater Das Zelt zu sehen und widme mich da-nach meinem ersten Album.» Ihr grösster Traum? «Selber mal das Hallenstadion füllen.»