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Michelle Gisin, Roger Federer, Camille Rast

Das Virus, das die Sportler flachlegt

Ungewöhnliche Zeiten für Skiprofi Michelle Gisin. Sie leidet am Pfeifferschen Drüsenfieber und darf momentan vor allem eines machen: rumhängen. Das heimtückische Virus hat schon die grössten Sportstars wie Roger Federer aus der Bahn geworfen. Wir haben beim Experten nachgefragt, weshalb das Virus so müde macht – und weshalb es Sportler:innen im Vergleich oft erwischt.

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Michelle Gisin 2019

Michelle Gisin liegt zurzeit mehrheitlich auf dem Sofa. Immerhin kann sie so alle Auftritte der Schweizer an den Olympischen Spielen gucken – das hat sie schon immer geliebt.  

Christoph Köstlin

Es ist Anfang 2008, Roger Federer verliert unerwartet zwei Spiele. Da er damals der grosse Dominator ist, geht das Rätseln los: Ist die Ära Federer nun vorbei? Hat er seinen Peak erreicht und es geht mit seiner Leistung bergab? So stark war der Baselbieter damals, dass gleich eine kleine Krise ausgerufen wurde. Wochen später die Erklärung: Roger Federer litt am Pfeifferschen Drüsenfieber, auch infektiöse Mononukleose genannt. Mindestens sechs Wochen lang habe es ihn beeinträchtigt, ohne dass er wusste, womit er es zu tun hat – denn die Symptome sind ähnlich einer Grippe.

Keuchen nach ein paar wenigen Treppenstufen

Nun hat es Michelle Gisin erwischt. Und auch sie litt zuerst einfach unter aussergewöhnlicher Müdigkeit, bis die Krankheit bei ihr diagnostiziert wurde. Im Frühling habe sie Corona gehabt, sagte die 27-Jährige im Interview mit dem Blick, dies dann aber überstanden. Und nun: Gliederschmerzen, Müdigkeit, an manchen Tagen kann sie kaum etwas machen. «Als Spitzensportlerin ist es schon bitter, wenn man nach wenigen Treppenstufen bereits keuchen muss.»

2017 hat es die junge Schweizer Skifahrerin Camille Rast hart getroffen. Zwei Saisons verlor sie durch die Erkrankung insgesamt und verzweifelte fast. Just nach einem Winter, in dem sie als 17-Jährige im Weltcup einschlug und in ihrem bloss fünften Rennen in die Top Ten fuhr, legte sie die Krankheit flach. Immer wieder wurde sie von heftiger Müdigkeit ausgebremst, sehr lange wurde es nicht besser. Rast dachte sogar an Rücktritt. 

Wie gefährlich ist die Infektion, die vom Epstein-Barr-Virus hervorgerufen wird und von Kinderarzt Emil Pfeiffer entdeckt wurde, für Sportlerinnen? Wir haben bei Dr. Walter O. Frey nachgefragt. Er ist Chefarzt des Schweizer Skiverbandes Swiss-Ski und hat bei Gisin das Virus diagnostiziert.

Herr Frey, wie fängt man sich das Epstein-Barr-Virus (EBV) ein, welches das Pfeiffersche Drüsenfieber auslöst?
Walter O. Frey: Dieses Virus ist in der Bevölkerung sehr breit gestreut. Man nimmt an, dass etwa 85 bis 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung schon mal Kontakt damit hatten. Der klassische Weg ist über den Speichel, weswegen die Krankheit auf Englisch «Kissing Disease» heisst. 

Dann bricht die Krankheit nicht bei allen aus, die das Virus erwischen?
Es kann durchaus sein, dass sie bloss wie eine Erkältung daherkommt, die man ja öfter hat. Einmal war es dann eben ein EBV-Infekt, den man gar nicht realisiert hat. Denn er kann in vielen Variationen auftreten.

Wie hören vor allem von jenen Fällen, in denen Leute über Wochen oder Monate müde und schlapp sind. Weshalb passiert das?
Die Medizin steht da vor einem Rätsel. Ein ähnliches haben wir zurzeit mit Long Covid – es können milde oder schwere Verläufe sein bei Covid. Plötzlich sagt jemand, er sei seit Monaten kraftlos. Es ist ein Phänomen, dass ein Virus, klassischerweise eben das EBV-Virus, eine solche Erschöpfung auslöst. Beim Sportler wäre das vergleichbar mit einem schweren Übertraining, beim Laien ist es so, wie wenn eine Dampfwalze über eine Mayonnaise-Tube fährt und der Mensch ist dann diese Tube: einfach leer.  

MELBOURNE, AUSTRALIA - JANUARY 25:  Roger Federer of Switzerland wipes his forehead during his semi-final match against Novak Djokovic of Serbia on day twelve of the Australian Open 2008 at Melbourne Park on January 25, 2008 in Melbourne, Australia.  (Photo by Clive Brunskill/Getty Images)

Roger Federer verliert im Januar 2008 im Halbfinal der Australian Open gegen Novak Djokovic. Damals war das eine Überraschung: Federer war dominant, Djokovic erst 20 Jahre alt. Die Erklärung kam erst viel später: Das Pfeiffersche Drüsenfieber hatte den Maestro einiges seiner Kraft gekostet.

Getty Images

Kann man etwas tun, um das zu vermeiden?
Eine These, weshalb die Krankheit einen langwierigen Verlauf nimmt ist, dass man ihr zu wenig Aufmerksamkeit gegeben hat. Dass man eine Erkältung oder eine kleine Grippe nicht sauber ausheilen lässt. Das machen ja auch die wenigsten – in 99 Prozent der Fälle ist das kein Problem. Und einmal hat man Pech. Das könnte man also vorbeugend machen. 

Michelle Gisin hatte im Frühling Corona. Kann es sein, dass das einen Zusammenhang hat?
Ob ein Corona-Infekt drei Monate vor dem Ausbruch einer Mononukleose mit dieser in Zusammenhang steht, ist meiner Ansicht etwas spekulativ. Grundsätzlich gilt es einfach festzuhalten, dass Spitzensportler häufiger an Infekten leiden als Breitensportler. Durch das harte Training vor allem in Ausdauersportarten verändert sich die Reaktion des Immunsystems und gerade Infekte des oberen Respirations-Traktes sind häufiger.

Deswegen hört man das verhältnismässig oft bei Sportlern.
Salopp ausgedrückt: Der Körper hat gewisse Kräfte. Wenn diese im Sport völlig absorbiert werden, hat er die Kraft nicht mehr, gegen irgendwelche Eindringlinge zu kämpfen. Insofern hat der Sportler ein Umfeld, das ein solches Virus begünstigt.

Und wenn es einen schon erwischt hat und man diese absolute Müdigkeit hat?
Dann gibt es drei Dinge, die man tun sollte: Erstens Bewegung, aber auf kleinster Belastungsstufe. Kleine Spaziergänge 2-3 Mal täglich im Flachen über 10-15 Minuten. Eine Treppe zügig raufgehen ist bereits die Limite. Das Zweite ist die Erholung: viel und regelmässig schlafen. Strukturierte Tage ohne Stress. Nicht im Ferienmodus sein, sondern einen Tagesplan haben, aber sämtliche Stresselemente weglassen. Das Dritte ist das Essen gemäss optimaler Ernährungslehre mit allen Supplementen.

Dr. med. Walter O. Frey

Dr. med. Walter O. Frey von der Hirslanden-Gruppe ist Chefarzt von Swiss-Ski und hat bei Michelle Gisin das Epstein-Barr-Virus diagnostiziert.

HO

Die Skifahrerin Camille Rast kostete die Infektion zwei Saisons. Kommt das häufig vor?
Häufig nicht, aber es gibt diese Fälle. Dass es sechs bis 12 Monate geht, ist nicht aussergewöhnlich, aber auch nicht die Regel.  

Kann man nach der Diagnose eine Prognose stellen, wie lange es dauert?
Es gibt gewisse objektive Kriterien. Häufig werden Organe mitbefallen, es gibt Milzvergrösserungen oder Leberwerte, die ansteigen. Diese messbaren Werte sollten sich normalisiert haben. Das ist Phase 1. Dann hat der Körper die Krankheit besiegt. Danach gehts in die Phase des Auftankens mit den obigen drei Faktoren. Dort haben wir keine Richtwerte mehr nach medizinischen Kriterien, sondern sind im Blindflug unterwegs. Das, was uns Anhaltspunkte gibt, sind Werte aus der Trainingssteuerung heraus. Also der Ruhepuls, Gehdistanzen, die man in immer kürzerer Zeit zurücklegen kann, z.B. die Spazierrunde durchs Dorf. 

So merkt man, dass man langsam wieder Fuss fasst.
Genau. Aber eine Prognose, ob es drei Wochen oder Monate dauert, kann man anfangs nicht geben. Erst wenn man es mal geschafft hat, dass wieder etwas Mayonnaise in der Tube ist, man also auf der Finnenbahn ein bisschen jöggerlen kann, dann kann man anfangen, einen Trainingsaufbau zu planen. 

Von Eva Breitenstein am 2. August 2021 - 12:06 Uhr