Ich bin ein ängstlicher Mensch. Doch manchmal fahre ich mit über 130 Stundenkilometern auf zwei Brettern in einem dünnen Renndress und einem Rückenpanzer einen vereisten Hang hinunter. Und dies, auch zu meiner Überraschung, auf Weltklasseniveau.
Als Kind gehörte ich nicht zu denjenigen, die sich alles trauten. Aber als Jüngste von drei Geschwistern versuchte ich den Grösseren beiden alles nachzumachen, und dies, ohne zweimal nachzudenken. Der Wille, was sie konnten, sofort ebenfalls zu können, war mein Antrieb.
Die Freude an der Bewegung und am Sport teilten wir seit jeher – die Freude für den Skisport war am allergrössten. Meine Schwester Dominique wollte als Erstklässlerin ins Skiklubtraining. Unsere Eltern, beide Turn- und Sportlehrer, freuten sich über ihre Begeisterung, damals nicht ahnend, wie die Welt des Leistungssports unsere Familie prägen sollte.
Die Leidenschaft trieb Dominique an, und sie wurde schnell schweizweit eine der besten Skirennfahrerinnen ihres Alters. Nur einige Monate bevor sie in die FIS-Stufe – die Stufe der Elite – wechseln sollte, verletzte sie sich zum ersten Mal am Knie.
Die ganze Familie lernte nun die negative Seite des Leistungssports kennen, und wir fanden uns auf einer Achterbahn der Gefühle wieder: Enttäuschung und Frust, Operationen und etliche Physiotherapiestunden, die Schmerzen – aber eben auch der riesengrosse Drang, der dich vorantreibt. Der Wille, der dich allein im Kraftraum schuften lässt, wenn du weit von der Topform entfernt bist. Die lehrreiche Zeit, wenn du deinen Körper und deine mentalen Fähigkeiten besser kennenlernst und doch zweifelst, ob du auf dem richtigen Weg bist. Das sind die schwierigsten Augenblicke einer Karriere, die dich aber stärken, wachsen lassen und zu dem Menschen machen, der du bist.
Nach dieser ersten Verletzung folgten weitere für Dominique. Als kleine Schwester wünschte ich mir nur, ich könnte ihr mein Knie geben. Ihre Liebe zum Skirennsport war ungebrochen, aber ich sah, wie sie litt, und mit meinem sechsjährigen Verstand konnte ich nicht begreifen, weshalb sie es trotzdem unbedingt wollte. Zwanzig Jahre später verstehe ich sie sehr gut.
Als Dominique die dreijährige Verletzungszeit mit fünf Knieoperationen hinter sich hatte, kam sie zurück. Und wie sie das tat! Nach nur zwei FIS-Saisons schaffte sie den Anschluss an die Weltspitze, fuhr in ihrer ersten Weltcupsaison in der Abfahrt konstant in die Top Ten und stand zum ersten Mal auf einem Weltcup-Podest.
Plötzlich waren für uns die mit dem Skisport verbundenen Emotionen auf die andere Seite gekippt. Nach wie vor überwältigend, doch diesmal positiv. Unsere Eltern, die sich hinterfragten, ob es denn das Richtige war, diesen gefährlichen Sport zu betreiben, sahen ihre Tochter mit so viel Glück und Freude erfüllt. All die schwierigen Jahre traten in den Hintergrund.
Mein Bruder Marc ging in der Zwischenzeit seinen Weg. Auch er entschied sich für den Skirennsport, die Freude daran war zu gross, um etwas anderes zu tun. Schritt für Schritt kämpfte er sich durch die Abnützungsmühle auf der Männer-Seite. FIS-Stufe, Europacup – die Dichte der guten Fahrer ist sehr gross. In seinen ersten beiden Weltcupsaisons fuhr er konstant unter die ersten 30 respektive 20 der Welt.
Im Februar 2012 folgte aber auch bei ihm die erste Verletzung mit einem Kreuzbandriss im Weltcup-Super-G in Crans-Montana. Was danach folgte, war eine Verkettung unglücklicher Umstände und Hindernisse: Komplett neue Materialbestimmungen vor der Comeback-Saison sowie die Weltcup- und Europacup-Planungen in den Speedrennen, die sich ständig überschneiden. Und dann auch der Wille, der dich verkrampfen lässt, wenn er zu gross wird. Schritt für Schritt musste sich Marc wieder nach oben kämpfen.
Für mich war er immer der beste grosse Bruder der Welt. Unglaublich talentiert, austrainiert und unzerstörbar. Im Januar 2015 wurde dieses Bild aber in einigen Hundertstelsekunden zerschlagen. Nach genialen Trainingsleistungen und einem elften Platz in der Lauberhornabfahrt eine Woche zuvor, stürzte er im Super-G auf der Hausbergkante in Kitzbühel.
Ein sehr schwerer Sturz. Ein Schädel-Hirn-Trauma mit Hirnblutungen – ein komplett neues Level der Angst. Die ersten 24 Stunden waren schrecklich. Mit Knieverletzungen konnten wir mittlerweile umgehen. Aber dies war ein ganz anderer Fall. Als wir Marc in der Uniklinik in Innsbruck besuchten, war er trotz allem nach wie vor der Alte, was uns unendlich erleichterte. Und was er nach diesem Rückschlag in der Folgesaison leistete, ist unvergleichlich. Ein Jahr später wurde er auf der Streif in der Abfahrt Fünfter.
Für mich war dieser Sturz, diese Verletzung aber sehr schwierig. Meinen grossen, starken Bruder so zu sehen, erforderte eine ganz andere Verarbeitung. Auch ich war inzwischen im Weltcupzirkus unterwegs. Zur Freude meiner Mutter hauptsächlich im Slalom.
Nach Kitzbühel 2015 verschob sich bei uns allen die Sicht auf die Welt ein wenig. Erst recht, als es Marc beinahe zwei Jahre später wieder einholte und er aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung die Saison abbrechen musste.
Dies war der Winter, in dem auch ich anfing, Speedrennen zu fahren. Von Beginn weg stand ich mit einer guten Portion Angst am Start. Dank der Betreuung meiner Trainer und meiner Schwester Dominique und bestimmt auch dank der Lockerheit meines Servicemanns Christian lernte ich damit umzugehen. Unser Gruppentrainer Alois Prenn sagte mir: «Angst ist nicht dein Gegner. Sie ist dein Schutz.»
Das hat sich mir eingebrannt. Ich versuchte jeden denkbaren Weg zu gehen, damit ich mich sicher fühlte. Ich visualisierte die Läufe dank Videofahrten stundenlang, bevor ich überhaupt auf der Piste stand. Weil ich im Slalom bereits in den Top 15 der Welt etabliert war, musste ich in den Speedrennen nicht alles riskieren. Meine Schwester schärfte mir ein, dass ich auch mal einen schlechten Tag einziehen darf, dass ich, wenn sich das Tempo nicht gut anfühlt und die Angst mich bestimmt, auch einfach bremsen kann.
Ich erreichte in diesem ersten Winter konstant gute Leistungen, und ein Jahr später schloss ich die Saison in der Abfahrtswertung auf dem 6. und in der Super-G-Wertung auf dem 4. Platz ab. An meiner Seite war meine Schwester Dominique. Sie, der ursprüngliche Auslöser für meine Angst, war nun die grösste Hilfe, um mit einem Gefühl der Sicherheit und schliesslich sogar der Freiheit, in den Speed-Disziplinen fahren zu können.
Meine Freude in dieser Olympiasaison, nachdem sich Marc erneut zurückgekämpft hatte, war riesengross. Er bestritt seinen ersten Grossanlass an den Olympischen Spielen in Pyeongchang und war auch an seinem ersten Weltcupfinale in Åre dabei.
Nach diesem soliden Winter und einer guten Vorbereitung schaute ich Marcs Abfahrten wieder mit mehr Ruhe. Als er in Gröden vor den Kamelbuckeln verschnitt, traute ich meinen Augen nicht. Ein Verschneider mit den Ski kann jederzeit geschehen, das wissen wir alle. Es ist ein Risiko, das wir eingehen. Meistens kommt man glimpflich davon, selten verletzt man sich.
Marc jedoch wird in diesem Fall mit über hundert Stundenkilometern über die Kante gefegt. Er landet mit voller Wucht in dem kleinen Gegenhang. Zum zweiten Mal in seiner Karriere erwischt ihn einer jener Stürze, den die allermeisten Athleten niemals erleben.
Er musste vor Ort beatmet werden, lag danach fünf Tage intubiert auf der Intensivstation, bevor er operiert werden konnte. Seine Regenerationsfähigkeit sucht aber seinesgleichen. Während den zwei Wochen im Kantonsspital Luzern versetzte er die Ärzte in Staunen. Uns erst recht. Er hatte etliche gebrochene Knochen, sein Brustkorb war eingedrückt, die Lunge war stark in Mitleidenschaft gezogen worden, und doch kam nach kürzester Zeit dieser Wille wieder zum Vorschein. Zurückkommen, wieder alles machen, was vorher möglich war. Dieser Wille gab ihm Energie, schob ihn vorwärts, half ihm, vollständig zu heilen und sämtliche Prognosen der Ärzte zu unterbieten.
Und ich fragte mich: Ist dieser Wille sinnvoll? Ist er gesund? Ist es gut, sich permanent verbessern zu wollen?
Marc ist gesund, steht wieder auf den Ski und trainiert mit dem Team. Dieser Wille hat sehr viel dazu beigetragen, dass das möglich ist. Ob er den letzten Schritt machen und wieder auf dem Niveau der besten Abfahrer der Welt ankommen kann, wissen wir nicht. Aber für mich hat er Weltklasseniveau längst erreicht. Denn wie er sich nach diesem Rückschlag durchgekämpft hat, ist beeindruckend. Ich bin sehr stolz auf ihn.
Meine Angst ist natürlich nicht kleiner geworden. Die Verarbeitung hat gedauert, und ich bin, ehrlich gesagt, froh, dank meiner eigenen Knieverletzung Anfang 2019 die Zeit dafür gehabt zu haben. Dank einem sehr guten Aufbau und mit der Unterstützung meines perfekten Umfelds fühle ich mich wieder bereit, in den Winter zu starten.
Die Freude an unserem Sport ist ungebrochen, und ich geniesse es sehr, dies mit meiner Familie bereits seit so vielen Jahren teilen zu dürfen. Denn nach jedem noch so tiefen Tal fuhr die Achterbahn unseres Lebens jedes Mal wieder nach oben.