Es herrscht Hochbetrieb im Zürcher Hallenbad Oerlikon: Schulklassen mit bunten Badekappen tummeln sich im Anfängerbecken, daneben ziehen ein paar Senioren ihre Längen. Ganz hinten beim Sprungturm steht Michelle Heimberg (23) auf dem Dreimeterbrett und geht – noch im Trockenen – ihren nächsten Sprung durch. Dann holt sie Anlauf, schwingt sich in doppelte Bretthöhe, springt ab und landet nach mehreren Saltos kopfüber im Wasser. Fast lautlos. Wieder an Land, wechselt sie ein paar Worte mit ihrer Trainerin und klettert erneut auf den Sprungturm. Es sind Finessen, an denen sie jetzt noch arbeitet: die Arme beim Absprung schneller hochziehen oder die Spannung beim Eintauchen noch mehr halten.
Dass sie in Perfektion abliefern kann, hat Michelle Heimberg längst bewiesen. Kürzlich ist die Wasserspringerin zum ersten Mal Europameisterin geworden. Bei den European Games in Polen holte sie Gold im Einmeterbrett. «Der Erfolg zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin», sagt sie und fügt an: «Nun kann ich die WM in Japan etwas ruhiger und lockerer angehen.» Wenn die junge Frau über ihre Leistungen spricht, tut sie das sachlich-analytisch, ja klingt manchmal fast wie ihre eigene Trainerin. Ansonsten sprudelt sie wie eine ganz normale 23-Jährige, erzählt etwa, dass sie im September mit ihrem Freund zusammenzieht und früher in der Schule nicht still sitzen konnte. «Meine Lehrerin sagte mir, ich solle doch schnell in den Handstand gehen oder einmal den Gang rauf- und runterrennen.»
Nach dem Training im Hallenbad setzt sie sich mit noch nassen Haaren ins Auto und fährt nach Hause, ins aargauische Fislisbach. Dort lebt sie zusammen mit ihren Eltern in einem Quartier mit Mehrfamilienhäusern. Yvonne (50) und Daniel Heimberg (53) haben früh gemerkt, dass ihre Tochter ein Bewegungskind ist. «Im Gegensatz zu ihrem älteren Bruder Yannick, der sehr ruhig und bedächtig unterwegs war, gab Michelle von Anfang an Vollgas», sagt ihr Vater.
Michelle ist vier, als sie mit Kunstturnen beginnt. Bald landet sie im nationalen Nachwuchskader und träumt von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen. Doch es kommt anders: Mit elf und zwölf bricht sie sich nacheinander beide Kniescheiben. Der Arzt empfiehlt: aufhören. Aber für Michelle ist klar: Sie will den Olympia-Traum nicht aufgeben. «Mit Mami suchte ich im Internet nach einer Sportart, die olympisch, aber auch knieschonend ist.» So landet sie – quasi nach dem Ausschlussprinzip – beim Wasserspringen.
Kaum finanzielle Unterstützung
Mit 16 zieht sie von ihrem Elternhaus nach Genf, weil die Trainingsbedingungen dort besser sind als im Aargau. Dann reiht sich Erfolg an Erfolg. Dreimal holt sie EM-Silber, bei den Olympischen Spielen in Tokio wird sie Elfte. Und jüngst eben: EM-Gold in Polen. Diese Medaille steht nun in einer Schatulle in ihrem Zimmer. Darüber hängen zig andere Auszeichnungen – fein säuberlich geordnet. «Ich bin eine Perfektionistin», sagt Heimberg. «Wenn ich etwas mache, dann ganz.» Fragt man ihre Eltern, wie dieser Perfektionismus für sie ist, sagt die Mutter: «Nicht immer einfach.» Und der Vater seufzt: «Ach ja …» Dann fügt er an: «Aber sie hat ihn nicht von ungefähr.» Als Eltern hätten sie ihren Kindern vorgelebt, dass es sich lohne, eine Sache richtig zu machen. Yvonne und Daniel Heimberg führen gemeinsam ein Immobiliengeschäft und sind sportbegeistert.
Vor zwei Jahren ist Michelle Heimberg von Genf in ihr Elternhaus zurückgekehrt, weil sie an der Uni Zürich ein Kommunikationsstudium angefangen hat. «Eine Alternative zum Spitzensport ist mir wichtig», sagte sie. «Ich kann mir gut vorstellen, irgendwann für eine Stiftung oder einen Verband zu arbeiten.» Sie selbst kriegt kaum finanzielle Unterstützung von extern – Wasserspringen ist eine Randsportart.
Nun, für Michelle Heimberg bleibt dieser Sport das Zentrum ihres Lebens. Und auch ihre Eltern werden an nichts anderes denken können, wenn an der WM zwei Sekunden über den Erfolg ihrer Tochter bestimmen: «Wir leiden mit, vom Ersten bis zum Letzten.»