Die oberste Migrationsbeamtin der Schweiz führt uns in den Keller hinunter. «Hier war ich an meinem allerersten Tag. Und das war so eindrücklich für mich», sagt Christine Schraner Burgener (59) am Hauptsitz des Staatssekretariats für Migration in Wabern bei Bern. Seit Anfang 2022 ist sie im Amt, seit fünf Monaten mit Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (59), als Chefin. Die Staatssekretärin öffnet die Tür und zeigt das riesige Archiv. Hier sind über 800 000 Asyldossiers abgelegt. «Jedes davon steht für ein Schicksal. Sie alle sind der Grund, warum ich diesen Job mache.»
Frau Schraner Burgener, privat haben Sie eine Frau aus der Ukraine zu Hause aufgenommen. Wie läuft das Zusammenleben?
Sofiia lebt seit über einem Jahr in der Wohnung neben meiner, die ich ursprünglich für meine Mutter erworben habe. Sie ist eine tolle und sehr selbstständige junge Frau, studiert Schauspiel, hatte sogar einen Auftritt in einem Berner Theater. Ihre Eltern leben im Westen der Ukraine, dadurch bekomme ich viel mit, was mir bei der Arbeit hilft. Sofiia sagte mir kürzlich, sie wolle nach diesem Semester wieder zurück.
Warum gerade jetzt?
Ich finde es auch zu früh. Das macht mir Sorgen. Und dann ausgerechnet nach Charkiw. Dort ist vieles zerbombt und zerstört. Aber sie will sich ein Leben in ihrer Heimat aufbauen und nicht hier. Und sie sagt, sie wolle sich nicht von Putin vorschreiben lassen, wo sie zu leben habe.
Der Status S ist rückkehrorientiert – wie lange der Krieg noch dauert, ist unklar. Was ist Ihre Strategie für Geflüchtete aus der Ukraine?
Wenn der Krieg vorbei ist oder es sicher genug ist, müssen sie zurückkehren. Aber solange diese Menschen hier sind, sollen sie so weit integriert werden, dass sie arbeiten können und nicht von Sozialhilfe abhängig sind. Arbeit verschafft ihnen auch Abwechslung und Ablenkung vom Krieg zu Hause.
Zurzeit arbeiten nur rund 16 Prozent von ihnen. In anderen Ländern – etwa in den Niederlanden – sind es über 40 Prozent. Warum klappt das bei uns nicht?
Ich stehe in regelmässigem Austausch mit den niederländischen Behörden. Das kann man nicht vergleichen. Dort arbeiten viele nur einen Tag pro Woche, bei uns dafür 60 oder 70 Prozent. Dazu kommt die Sprache. Die meisten Ukrainerinnen können etwas Englisch, und in den Niederlanden reden alle Englisch. In der Schweiz muss man fast immer Deutsch oder Französisch sprechen. Wir prüfen, wie wir sie noch besser bei der Integration in den Arbeitsmarkt unterstützen können.
Ukrainische Jugendliche können eine angefangene Lehre abschliessen, auch wenn der Krieg vorbei ist. Ob ihre Eltern ebenfalls bis zum Abschluss bleiben dürfen, hat der Bund nicht entschieden. Warum?
Das entscheiden wir, sobald der Status S aufgehoben wird. Wer eine Lehre macht, ist unter Umständen ja schon volljährig und kein Kind mehr.
Aber mit 16 oder 17 Jahren alleine in einem fremden Land leben …
… also meine Kinder hätten das gemacht. Aber ich kann natürlich nicht von mir auf andere schliessen. Man muss wohl jeden Fall einzeln anschauen, und das werden wir auch tun.
Nach dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat die Schweiz Visa für betroffene Verwandte von Schweizern ausgestellt. Bis heute haben knapp 400 Personen vom beschleunigten Verfahren profitiert. Nun ist das Visumsprogramm beendet, obwohl die Lage vor Ort prekär ist: Seuchen, kein Trinkwasser und zu wenige Unterkünfte.
Bei diesem Verfahren ging es darum, den Leuten sofort ein Dach über dem Kopf zu geben. Inzwischen können wir davon ausgehen, dass die Lage vor Ort deutlich besser ist.
Die Visa sind 90 Tage gültig. Die ersten Menschen müssen bereits wieder zurück.
Die Türkei ist ein funktionierender Staat. Es ist seine Aufgabe, das Land wieder aufzubauen. Die Schweiz leistet hier finanzielle Hilfe.
In der Schweiz sagen manche, wir hätten zu viele Flüchtlinge.
Wir geben jenen Menschen Schutz, die Schutz brauchen. Da halten wir uns an die Genfer Konventionen und unsere Gesetze. Aber ja, es gibt auch viele Menschen, die kommen, weil sie bei uns ein besseres Leben suchen, weil sie vor der Armut flüchten. Sie können keine Asylgründe geltend machen und müssen unser Land rasch wieder verlassen.
Können Sie nachvollziehen, dass Menschen vor der Armut flüchten?
Ja, natürlich. Wer würde das nicht probieren? Und wenn man noch Kinder hat, will man für diese eine bessere Zukunft. Aber das ist nun mal kein Asylgrund. Wir können nichts anderes tun, als diese Menschen wegzuweisen.
Letztes Jahr sagten Sie, wir stecken in der grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Spüren Sie einen Druck?
Ja, sehr! Wir sind in einer Ausnahmesituation. 2022 haben wir 24 500 Asylsuchende aufgenommen, gleichzeitig auch noch 74 000 Ukrainerinnen und Ukrainer registriert. Also 100 000 Menschen. Ich will, dass niemand, der Schutz braucht, draussen auf dem Boden schlafen muss. Ich bin stolz, dass wir das geschafft haben.
Dieses Jahr rechnen Sie mit 27 000 Asylsuchenden. Wie schaffen Sie das?
Wir suchen intensiv nach zusätzlichen Unterkünften und werden auch weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rekrutieren. Es fordert uns, aber wir sind gut unterwegs.
Wie erleben Sie die Stimmung in den Bundesasylzentren?
Es kann belastend sein, da zu arbeiten. Ich habe Hochachtung vor meinen Mitarbeitenden. Die Asylsuchenden haben oft Gewalt erlebt und sind traumatisiert. Sie kommen in ein fremdes Land. Diesen Menschen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, ist eine Herausforderung. Ich bin stolz, dass uns dies in den Bundesasylzentren gut gelingt.
Die Kantone sagen, sie hätten nicht genug Platz. Wie lange geht das noch gut?
Wenn ein Kanton wirklich keine Plätze mehr hat, gewähren wir ihm eine kurze Pause. Wir müssen dann andere Lösungen finden. Ende November etwa dachte ich, jetzt wirds wirklich eng! Wir hatten auf Bundesseite nur noch 35 Betten. Ich musste den Artikel 24 des Asylgesetzes einsetzen – und Asylsuchende vorzeitig auf die Kantone verteilen. Dies hat die Kantone stark belastet.
Nun wollten Sie Containerdörfer mit total 3000 Betten auf Militärgrundstücken bauen. Die Kantone sollten mitzahlen, wehrten sich aber dagegen. Verstehen Sie das?
Im Asylgesetz ist zwar nicht vorgesehen, dass sich die Kantone an Betriebskosten beteiligen. Aber es ist auch nicht ausgeschlossen. Wenn wir diese Container nicht aufstellen können und im Herbst wieder in eine prekäre Situation kommen, dann müsste ich erneut Asylsuchende vorzeitig auf die Kantone verteilen. Das würde ebenfalls zusätzliche Kosten für sie bedeuten.
Befürchten Sie, dass die Stimmung bei der Bevölkerung kippt?
Bis jetzt spüre ich nichts davon. Ich denke, das ist eine wichtige Aufgabe der Politiker: nicht Angst zu schüren, sondern mitzuhelfen, diese schwierige Situation solidarisch zu meistern. Menschen in Not politisch auszunutzen, finde ich unredlich.
Wie gehen Sie gegen solche Manöver vor?
Es ist ein Balanceakt. Ich kann verstehen, dass Ängste aufkommen. Die müssen wir ernst nehmen. Unsere Aufgabe ist, eine gute Asylpolitik zu machen. Rasch entscheiden und Schutz gewähren, aber auch jene wegweisen, die keinen Anspruch haben auf unseren Schutz. Wir sind in Europa Spitzenreiter, konnten letztes Jahr 54 Prozent der Asylsuchenden, die eine Wegweisung erhalten haben, rückführen.
Bundesrätin Baume-Schneider kritisiert, dass Italien keine Asylsuchenden zurücknehmen will. Deutschland kritisiert, dass die Schweiz Asylsuchende durchwinkt. Funktioniert das europäische Asylsystem überhaupt noch?
Bundesrätin Baume-Schneider hat am Mittwoch den italienischen Innenminister Matteo Piantedosi getroffen. Er hat ihr versichert, dass Italien wieder Asylsuchende aufnehmen will, wenn es zusätzliche Unterbringungsplätze geschaffen hat und es die Lage zulässt. Die deutsche Regierung wiederum hat bestätigt, dass sich die Schweiz korrekt verhält, was die Transitmigration betrifft. Das Dublin-System hat zwar Schwächen und muss reformiert werden – darüber sind sich alle einig. Aber es funktioniert mit vielen Staaten durchaus.
Sie sind von einer Krise in die nächste geschlittert. Vor Ihrem jetzigen Job waren Sie UN-Sonderbeauftragte für Myanmar und die vertriebenen Rohingya. Sie waren im grössten Flüchtlingslager der Welt.
Ich hatte mein Büro in Myanmar und war mehrere Male in Cox’s Bazar in Bangladesch, um die Flüchtlinge aus Myanmar zu besuchen. Das kann man sich gar nicht vorstellen: Eine hügelige Landschaft, darauf zusammengebastelte Bambushütten mit Blachen – und eine Million Menschen leben dort. Es ist stickig heiss und hat viele Mücken. Die Menschen dürfen nichts machen und müssen warten. Als ich damals zurück in die Schweiz kam, habe ich mich über vieles gewundert. Etwa, wenn mir jemand erzählt hat, der Nachbar schneide die Hecke nicht richtig. Aber die Erfahrung von damals hilft mir heute, nachvollziehen zu können, was die Menschen teilweise durchmachen mussten, die zu uns kommen.