Seit fünf Uhr ist Milena Moser, 58, wach. Ausschlafen gehört bei der Schriftstellerin längst zur Vergangenheit. «Genauer, seit ich Mutter wurde.» Ihre Söhne sind mittlerweile 34 und 27 Jahre alt und leben in der Schweiz, 10 000 Kilometer entfernt von Moser, die in San Francisco lebt. Seit 2015 wohnt sie wieder in den USA. Bereits 1998 ist sie mit ihrer Familie nach San Francisco ausgewandert und acht Jahre geblieben. 2015 geht die Zürcherin erneut – alleine – und nach Santa Fe, New Mexico. Vier Jahre später zieht sie der Liebe wegen zu Künstler Victor-Mario Zaballa, 65, nach San Francisco. Das Pendeln zwischen den beiden US-Bundesstaaten ist für den Nierentransplantierten zu anstrengend.
Milena Moser, ich behaupte, Sie brauchen Veränderungen, um als Autorin Schreibstoff zu haben.
Genau umgekehrt. Schreiben ist mein Anker. Es begleitet mich mein ganzes Leben, unabhängig von allen Umständen – egal, ob mit kleinen oder grossen Kindern, verheiratet, geschieden oder frisch verliebt. Das Schreiben ist mein Zentrum: Ich bin eine, die schreibt.
Woher kommt denn Ihr Drang zu Lebenserneuerungen?
Eine Freundin sagte mir, dass es die Sesshaften und die Nomaden gibt. Und ich sei eine Nomadin. Das leuchtet mir ein, obwohl ich mich gleichzeitig auch nach einem Ort sehne, an dem ich bleibe, bis ich sterbe. Wie 2015 das Häuschen in Santa Fe. Ich war dann aber nur vier Jahre dort, weil ich mich in meinen Mann Victor verliebte.
Ist Auswandern für Sie ein Verlassen der Komfortzone?
Auf jeden Fall. Wohl deshalb sagt man, ich sei mutig. Das ist es nicht. Als junge Frau dachte ich, dass ich irgendwann das Leben im Griff habe und es dann keine Katastrophen, keine Überraschungen und keine Schicksalsschläge mehr gibt. Mitte 30 kapierte ich, dass das Leben eine stetige Wellenbewegung ist und der Trick ist, mit den Wellen mitzugehen. Mit 35 bin ich dann das erste Mal ausgewandert.
«Das Schreiben ist mein Zentrum, begleitet mich unabhängig von allen Umständen»
Milena Moser
In San Francisco findet Milena Moser zu Yoga und später zum Buddhismus. Yoga und Zen-Meditation praktiziert sie noch heute in ihrem Schreibhäuschen. Von ihrer Lehrerin hört sie immer wieder, dass sie kein Holz ins Feuer legen soll. «Meine Emotionen nicht mehr füttern.» Milena Moser lacht. «Ich bin kein Wonnebuddha, der immer nur lächelt. Ich akzeptiere einfach, dass ich auch mal am Boden liege.»
Ist es einfach, an einem neuen Ort zu leben?
Nein, etwas hinter sich zu lassen, hat immer auch mit Verlusten zu tun. Mein Leben ist geprägt von Verlusten. Beim ersten Mal spürte ich einfach, dass es gut kommt – und meine Familie musste mir das glauben. Doch mit 50 ist es anders als mit 35. Meiner Mutter ging es gegen den Strich. Dass ich dennoch mit 51 ging, war ein Riesenschritt, der mich extrem viel gekostet hat. Und ich finde es definitiv anstrengender, weil ich auch ein unglaublich schlechtes Ämter-Karma habe. Überall, wo ich hingehe, habe ich ein Problem.
Wie meinen Sie das?
Schon in der Schweiz konnte ich keine Steuererklärung machen, ohne überprüft zu werden. Aber in der Schweiz war ich immerhin in meiner Heimat, hatte gewisse Rechte. Hier habe ich keine Rechte, bin Ausländerin. Doch im tiefsten Innern habe ich wohl das Gefühl, man müsse mich besser behandeln, weil ich eben Schweizerin bin. Das meinte jedenfalls mein älterer Sohn zu mir. Victor sagt nur: «Willkommen in meiner Welt.»
Sie denken, Sie seien was Besseres?
Offenbar habe ich so einen Chauvinismus in mir drin, der mir nicht bewusst war. Eine lehrreiche Erfahrung. Ich dachte stets, ich sei ein weltoffener und toleranter Mensch.
Eine Erkenntnis, die wehtut?
Es beschämt mich, ja. Ich bin mit einem mexikanischen Indigenen verheiratet. Ich habe doch nicht wirklich das Gefühl, wenn sie ihn so behandeln, ist es zu erwarten, aber nicht, wenn es mich betrifft? Zuvor, als ich mit meiner Schweizer Familie in San Francisco lebte, fand ich: was für eine weltoffene, tolerante Stadt. Und jetzt sehe ich einen Rassismus – war ich blind zuvor?
«Ich bin kein Wonnebuddha. Ich akzeptiere einfach, dass ich auch mal am Boden liege»
Milena Moser
Ist das Streben nach Glück der Grund, weshalb Sie Dinge eher annehmen als ablehnen?
Nur so bin ich fähig, das mitzumachen, was das Leben mir anspült. Ich höre von so vielen Frauen in meinem Alter, dass sie keinen Mann finden. Aber wenn ihnen jemand wie Victor vor die Füsse geworfen würde, käme die Reaktion: «Um Gottes willen! Der ist krank, nicht reich, trägt die falschen Schuhe.» Das wunderschöne Wort «Serendipity» – Schicksal oder glückliche Fügung – spielt in meinem Leben eine grosse Rolle.
Aber einen schwer kranken Lebenspartner zu haben, ist wohl für wenige eine glückliche Fügung.
Der Antrieb ist nicht, Glück in idealen Umständen zu finden, sondern in jedem Moment. Ich bin diesem Glück mit Victor viel näher gekommen. Er kann im Notfall liegen und dennoch jede Situation zum Positiven kehren, indem er mit der Person, die gerade den Abfallsack wechselt, ins Gespräch kommt. Zu erleben, wie er mit schwierigen Momenten umgeht, ist kostbar. Deswegen sind die schwierigen Situationen ein wichtiger Teil meines Glücks. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin alles andere als eine Heilige und auch Victor mit all seiner Weisheit nicht. Wir sind einfach Menschen, die etwas probieren – nämlich glücklich zu sein.
Jetzt, da ihr wegen der Pandemie verschobenes Buch endlich erscheint, ist Milena Moser glücklich. Aber vielmehr, weil ihr Mann seit über einem Jahr nicht mehr in den Notfall musste. Milena Moser klopft in ihrem Schreibhäuschen dreifach auf das Holz des Bücherregals. Er, der als transplantierte Person kein Immunsystem besitzt und Anfang 2020 noch zwei grosse Herzoperationen hatte. «Wie ein Wunder hat er sich erholt und das erste Mal seit 20 Jahren überhaupt einen regelmässigen Herzschlag.»
Sie haben Ihre Sehnsüchte erwähnt. Welche haben Sie aktuell?
Dass ich eine gewisse Sicherheit gewinne im rechtlich-administrativen sowie finanziellen Bereich. Als ich jünger war, hat mir das wenig bedeutet. Ist wohl auch ein Grund, weshalb ich so leben konnte, wie ich gelebt habe. Heute habe ich das Bedürfnis zu wissen, wann ich das nächste Mal Geld verdiene. Ich habe mehr «Schiss». Deshalb empfinde ich mich wohl auch nicht als mutig (lacht).