Was meinst du? Schön, oder?» Marco Chiesa (48) legt einen Stapel Bierdeckel mit seinem Konterfei auf den Steintisch vor seinen Vater. Wahlwerbung. «Wäre schöner, wenn mein Gesicht drauf wäre», meint Antonio Chiesa (73) trocken. Sein Sohn lacht laut.
Die Aufregung ist gross im Garten des Grotto Pierino in Lugano, wo sich der SVP-Präsident und sein Vater zum Mittagessen treffen. Wobei fast so viele Leute ein Selfie mit dem Papa des Politikers wollen wie mit ihm selbst. Denn Antonio Chiesa hat in der Gegend so etwas wie einen Legendenstatus: Der ehemalige Fussballer wurde 1968 mit dem FC Lugano Cupsieger. «Bis ich in die nationale Politik einstieg, war ich hier immer in erster Linie ‹der Sohn von Antonio Chiesa›», sagt Marco. «Bist du immer noch», meint der Senior knapp zwischen einem Bissen Brasato und einem Schluck Rotwein.
Auch wenn er es nie zugeben würde: Antonio Chiesa ist mit jeder Faser seines Körpers stolz auf seinen Sohn. Zwar behauptet er, niemals den Fernseher einzuschalten, wenn Marco am Bildschirm debattiert – «ich schaue lieber Karin Keller-Sutter, ihr Gesicht ist hübscher» –, könnte aber vermutlich seine letzten drei TV-Auftritte auswendig zitieren. Obwohl keine zehn Minuten vergehen, in denen sich die beiden nicht hochnehmen, merkt man: Ihr Verhältnis ist eng. Dies obwohl – oder vielleicht gerade weil – Marco Chiesa nie mit seinem Vater zusammenlebte. Seine Eltern trennten sich früh. «Ich kann mich nicht erinnern, sie je als Paar erlebt zu haben», sagt er. Trotzdem ist der Papa präsent in seiner Kindheit, lässt sich zum Beispiel keines der Fussballspiele seines Sohnes entgehen. «Das habe ich sehr geschätzt», sagt dieser. Als er nach Fribourg geht, um zu studieren, hängt Marco die Fussballschuhe an den Nagel. «Seither mache ich nichts mehr, von
dem mein Vater denkt, dass er es gut kann. Zum Beispiel Karten spielen», flachst Chiesa mit einem Seitenblick auf Antonio, der zweimal im Gemeinderat war. Dieser isst ungerührt weiter, meint dann schulterzuckend: «Immerhin wurde ich beide Male direkt gewählt.»
Den Grundstein für Marcos politisches Interesse habe eher seine Mutter gelegt, welche Gemeindesekretärin war und «CVP-nahe»: «Sie nahm mich jeweils zu Politveranstaltungen mit. Mit meinem Vater lebte ich eher die Ticinesità: Diskussionen im Grotto, Boccia spielen am Wochenende, halt das, was den ‹Spirito ticinese›, die Tessiner Seele, ausmacht.» Und schlussendlich wohl auch die Triebfeder für Marco Chiesas politische Karriere ist. So sagt er nicht: «Ich freue mich, dass ich in den Nationalrat gewählt wurde», sondern: «Ich habe Freude, als Tessiner in den Nationalrat gewählt worden zu sein.» Der Sitz im Ständerat ist denn auch die grösste Ehre für ihn: «Ich bin stolz, meinen Kanton in Bern zu vertreten.» Das erklärt seinen Verzicht auf eine Nationalratskandidatur: Chiesa will als Ticinese nach Bern. Oder gar nicht.
Dass sein Sohn «gefühlt 100-mal pro Woche» in die Hauptstadt pendelt (der SVP-Präsident hat keine Bleibe in Bern), ist für Antonio Chiesa unverständlich. «Wenn ers für eine Frau täte, würd ichs ja noch verstehen. Aber für die Politik?» Nun, er tut es zum einen, um nicht ständig getrennt von seiner Frau Monja, 45, und den Kindern Mathias (15) und Micol (13) zu sein. Und zum anderen aus Leidenschaft für die Politik. Die Lust, seine Passion auszuleben, teilt er dabei durchaus mit seinem Vater. «Er investierte früher viel in den Fussball, heute in die Jagd und ins Pilzesammeln. Und er liebt die Berge, das haben wir gemeinsam», sagt Marco Chiesa. Sonst seien sie doch eher verschieden.
Wie denn Marco so gewesen sei als Kind? «Normal», sagt Vater Antonio in der ihm eigenen pragmatischen Art. «Er fuhr Töffli und dann Auto. Marco war ein normaler Jugendlicher, der gern mit Freunden unterwegs war.» Und als Teenager ungefragt einen Husky kauft, den er beim Vater deponiert, weil die Haustierdiskussion mit der Mutter nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hat. «Er versprach hoch und heilig, sich um den Hund zu kümmern. Und ging dann nach Fribourg, um Wirtschaft zu studieren», erzählt Antonio Chiesa mit einem gespielten Seufzer.
Nach dem Caffè – auf den Limoncello verzichten die Herren heute – gehts für einen kurzen Abstecher in das Fussballstadion, das beide Chiesas mit so vielen Erinnerungen verbinden. Das Cornaredo wird gerade aufwendig saniert. Dass zwei der bekanntesten Luganesi trotzdem kurz auf dem Rasen ein paar Bälle kicken dürfen, ist selbstverständlich. «Der Fussball hat mich einiges gelehrt, das ich auch in der Politik brauchen kann», sagt Marco Chiesa. «Zum Beispiel Teamwork. Egal, wie gut du bist – allein wirst du immer scheitern.» Und Delegieren: «Als Parteipräsident aus dem Tessin kann ich nicht überall präsent sein. Es gibt in unserer Partei viele Leute, die unsere Positionen sehr gut vertreten können. Da übergebe ich das Spielfeld in sichere Hände.»
Eines hat Marco Chiesa vor ein paar Jahren allerdings abseits vom Fussballplatz und vom Politzirkus gelernt: dass es Situationen gibt, in denen man die Prioritäten plötzlich ganz anders setzen muss. Als Antonio Chiesa mit Herzproblemen im Spital liegt, sein Leben an einem seidenen Faden hängt, merkt Marco: «Manchmal muss man sich auf das konzentrieren, was für einen persönlich wirklich wichtig ist.»
Das Vater-Sohn-Duo marschiert aus dem Stadion. «Ciao, Antonio!», ruft Marco, als jener auf sein Auto zusteuert. Dieser hebt im Gehen die Hand, dreht sich dann doch um und grinst breit. Marco Chiesa lacht. «Man muss ihn einfach lieben, oder?»