«Fertig?», fragt Werner Günthör. «Du bist so ungeduldig», sagt seine Frau Nadja, trennt mit dem Kamm ein Haarbüschel ab und schneidet seelenruhig die Spitzen. «Er kann noch viel von mir lernen», sagt sie und fügt lachend an: «Ich von ihm eher weniger.» – «Warts ab!», warnt er und ballt zum Spass seine Faust. So sind Nadja, 57, und Werner Günthör, 60: Sie witzeln und frotzeln, machen Sprüche, teilen aus. Aber immer steckt dahinter auch: viel Zuneigung füreinander. Seit ihrem Kennenlernen vor 40 Jahren sind sie sich stets auf Augenhöhe begegnet.
Die Frau im Hintergrund
In der Öffentlichkeit jedoch stand lange nur er: Werner Günthör, dreifacher Weltmeister im Kugelstossen, Gewinner von Olympiabronze, «Kugel- Werni», der erfolgreichste Schweizer Leichtathlet aller Zeiten. Nadja war die Frau im Hintergrund, eine gelernte Coiffeuse. Die Presse wollte von ihr höchstens wissen, wie sie ihren Mann unterstützt («Sie krault ihm oft im Haar, damit er sich entspannen kann», «Sonntagsblick», 1994).
«Von aussen hat es vielleicht so ausgesehen, als würde sich alles nur um ihn drehen, aber das war überhaupt nicht der Fall», sagt Nadja Günthör nach dem Haareschneiden bei einem Kaffee am Esstisch – wir sind bei den Günthörs daheim, in einem Einfamilienhausquartier in Erlach BE, im Garten wachsen die Margritli, im Schopf warten die Töff auf den Frühlingsputz. «Werner hat mir ein abenteuerliches Leben beschert», sagt Nadja. «Durch ihn habe ich die halbe Welt kennengelernt.» Allerdings sei sie auch oft allein gewesen. «Ich musste mein Leben von Anfang an selbst gestalten, aber das hat mich nur stärker gemacht.»
Der Name gehört zu beiden
Nach der Coiffeurlehre holte sie die Handelsschule nach, arbeitete in der IT-Branche, wurde Eventmanagerin und erwarb das Coaching-Diplom. 2013 steigt sie als SVP-Gemeinderätin für Erlach in die Politik ein. Vor wenigen Wochen gelingt ihr der Sprung ins kantonale Parlament, den Berner Grossen Rat. Nun der Rollentausch: Nadja hat öffentliche Auftritte, beantwortet Presseanfragen, bekommt Applaus. Werner unterstützt sie im Hintergrund. Als Teil des fünfköpfigen Wahlkampfteams stellte er Plakate auf, verteilte Flyer, begleitete seine Frau an Wahlapéros. Dass seine Bekanntheit für ihren Sieg förderlich war, streitet Nadja Günthör nicht ab. Vielmehr sagt sie: «Ich wäre unbedarft gewesen, hätte ich diesen Bonus nicht genutzt, denn der Name gehört seit unserer Heirat vor 29 Jahren auch zu mir.» Doch am Ende müsse sie die Leistung bringen – und nicht ihr Mann.
Gemeinsam anpacken
«Politik wäre nichts für mich», sagt Werner, der im Sportzentrum Magglingen als Trainer und Besucherführer arbeitet. «Ich bin nicht gern auf andere angewiesen, entscheide lieber allein.» Nadja sei anders: «Sie kann gut zuhören, vermitteln und analysieren.» Gemeinsam ist beiden, dass sie anpacken können. «Als ich sie kennenlernte, war sie ein richtiger Rüedu», sagt Werner – und meint das durchwegs positiv. Nadja Günthör ist in Romanshorn TG mit zwei Geschwistern aufgewachsen. Ihr Vater, ein Italiener, arbeitete als Maurerpolier, die Mutter, eine Schweizerin, verdiente Geld als Schneiderin. «Wir hatten nicht viel, aber von allem genug», sagt Nadja. Sie liebt Sport, Leichtathletik, Ski und Volleyball. «Ich war eine burschikose Frau und ganz sicher nicht die Brävste.»
Mit 17 lernt sie Werner kennen. Er ist 21 und muss sich gerade entscheiden, ob er als Sportler eine Profilaufbahn einschlagen will. «Er überlegte lange, ob er sich auf eine Beziehung einlassen soll», erinnert sie sich. «Sport hatte halt erste Priorität», sagt er. Am Ende siegt die Liebe. Drei Jahre führen Nadja und Werner eine Fernbeziehung Romanshorn–Magglingen. Dann zieht auch Nadja nach Bern. 1993 heiraten die beiden. Warum haben sie es bis heute miteinander ausgehalten? Sie sagt: «Schaffen, schaffen, schaffen.» Er sagt: «Es passt einfach, fertig.» Aber dann betonen beide noch, wie wichtig es sei, einander genügend Freiraum zu lassen. Für Freunde, Spielabende oder Töfftouren in der Umgebung.
Viele Wege führen nach...
Mit Nadja Günthör ist das obere Seeland erstmals nach über 20 Jahren wieder mit einer Stimme im Kantonsparlament vertreten. Als SVPlerin will Günthör, die noch immer breitesten Thurgauer Dialekt spricht, unter anderem den Sport fördern. «Viele Kinder schaffen heute nicht mal mehr den Purzelbaum.» Sie ist überzeugt: «Sport beugt Krankheiten vor und entlastet die Gesundheitskosten.» Auch Bildung und Chancengleichheit sind ihr wichtig. «Unser durchlässiges Bildungssystem ist hervorragend», sagt sie, «das muss unbedingt so bleiben.» Dass es in der Schweiz nicht nur den einen Weg für die berufliche Karriere gibt, dafür ist sie selbst der beste Beweis – ihre Coiffeurschere nimmt sie heute nur noch für Werner in die Hand.