Laurin, 9, und Linus, 6, verdrehen die Augen. Statt endlich aufs Trottinett zu steigen, lässt sich ihr Vater Martin Candinas, 38, von einem Maiensässbesitzer im Val Tours herumführen. Zuvor hat der Bündner CVP-Nationalrat den Chauffeur vom Bus alpin, der die fünfköpfige Familie ins Bergtal oberhalb von Bergün gefahren hat, zum Kafi eingeladen. «Grazia fitg», bedankt sich dieser – und die beiden schwatzen weiter auf Rätoromanisch: über die Alpin-Busse, die Gebiete ohne Postautoanschluss erschliessen, über den Bartgeier, der manchmal hier in der Höhe seine Runden zieht, und über einen Anlass in Savognin, wo sie sich schon mal begegnet sind.
«Ich bin es gewohnt, dass Martin fast jeden kennt», sagt seine Frau Eliane, 38. In Chur, wo die Familie in einem lichtdurchfluteten Haus in der Nähe des Bahnhofs wohnt, könne man jetzt vor den Wahlen kaum mehr in Ruhe durch die Stadt laufen. «Die Kinder finden das nicht immer lustig», sagt sie augenzwinkernd.
«Papa, fahren, nicht labern!» Candinas montiert Linus den Helm, stellt ihn zwischen sich und den Lenker – los gehts.
Die sieben Kilometer lange Strecke führt von Chants auf rund 1600 Metern runter nach Bergün. Einen Grossteil davon fahren sie auf Naturwegen – entlang von blühenden Alpenrosen auf der einen und dem rauschenden Tuor-Bach auf der anderen Seite. «Hier ist die Welt noch in Ordnung», ruft Candinas.
«Halt!» befiehlt Lena, 4, nach einigen Minuten. «Die Jüngste bestimmt, so ist das bei uns», sagt Candinas, nimmt am Brunnen einen Schluck Wasser und zeigt auf einen alten Stall. «Es wäre doch eine Schande, wenn man den für die nächste Generation nicht umbauen könnte.» In Bern weibelt er für eine Lockerung des Zweitwohnungsgesetzes. «Grüne Wiesen in Touristenorten sollen bleiben – aber wir dürfen Berggemeinden, die mit einem Bevölkerungsrückgang kämpfen, nicht noch bestrafen.»
Candinas ist in Rabius, einem Bergdorf in der Surselva, aufgewachsen. Noch heute gehört der Familie ein Stockwerk des Elternhauses, wo sie so oft wie möglich Zeit mit «Tatta» und «Tat» verbringt. Selbstverständlich hat er auch Eliane in Graubünden kennengelernt, vor sechzehn Jahren am Open Air Val Lumnezia.
Doch – man staune – die ehemalige Detailhandelsangestellte im Musik Hug ist Solothurnerin! «Nach Solothurn ziehen? Vielleicht mal für zehn Jahre», sagt Candinas. «Das sagtest du schon früher», erwidert seine Frau und lacht. «Martin bringe ich kaum aus Graubünden weg.» Die Candinas leben das traditionelle Familienmodell, Eliane ist «die Managerin» – «freiwillig», wie er betont.
Gesellschaftspolitisch sei sie etwas liberaler, etwa bei der Ehe für alle und der Kinderadoption für gleichgeschlechtliche Paare. Dafür sind für ihn genügend Krippenplätze «ein Muss», und seinen Vorstoss für zwei Wochen Papi-Ferien hat der Ständerat kürzlich angenommen.
In Bergün am Bahnhof angekommen, leuchten die Augen von Laurin beim Anblick der Kroki-Loki. Und als Linus erfährt, dass sie im Fahrsimulator mit Originalschaltern und -hebeln durch den Albulatunnel fahren können, ist der Kampf um den ersten Lokführer entbrannt. «Jeder kommt dran», beruhigt Walti Sommer vom Bahnmuseum Albula die erhitzten Gemüter und sagt zu Candinas: «Martin, du kennst glaub meinen Junior.» – «Jo klaaar – der arbeitet doch auch in der Versicherungsbranche.» Candinas hat ein Pensum von 20 Prozent bei der Helsana, daneben etliche Mandate, etwa bei der Höheren Fachschule Südostschweiz.
«Ich fühle mich meiner Region sehr verpflichtet.» Obwohl er als möglicher Kandidat für die Nachfolge von Doris Leuthard im Gespräch war, sagte er ab. «Ich habe keine Sekunde daran gedacht.» Schon heute sei es eine Herausforderung, neben Politik und Beruf genug Zeit für die Familie einzuplanen.
Auf die Frage, ob sie wissen, was ihr Papa in Bern so mache, antwortet Lena: «Läse!» – «Nein», meint Laurin: «Chille und labere.»
Weitere Etappen gibt es im Dossier «Quer durch die Schweiz» zu lesen.