Ganz unspektakulär rinnt vom Tomasee ein Bergbächli talwärts. Unvorstellbar, was aus diesem Flüsschen entstehen wird! Eine Lebensader quer durch Mitteleuropa, eine der verkehrsreichsten Wasserstrassen der Welt, ein Strom, der neun Länder miteinander verbindet. Der Rhein. In Graubünden, oberhalb des Oberalppasses, hat der Fluss seinen Ursprung. Von hier aus fliesst das Wasser innert 30 Tagen in die Nordsee. Von hier aus wird das Wasser noch länger fliessen, als wir alle leben.
Doch dieser Ursprung ist gar nicht so einfach zu erreichen. Am Morgen, kurz nach 10 Uhr, steht eine Gruppe bereit. Martin Candinas (42) Nationalratspräsident, hat eingeladen. Mit den Botschafterinnen und Botschaftern der Anrainerstaaten des Rheins will der höchste Schweizer zur Quelle wandern. Heute steht nicht die Politik im Vordergrund, sondern die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Einladung des Bündners sind die Vertreterinnen und Vertreter von Liechtenstein, Österreich, Deutschland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden gefolgt. «Angefragt habe ich zuerst bei der Botschafterin aus den Niederlanden, das ist am weitesten entfernt. Ich wusste, wenn sie kommt, müssen die anderen auch», sagt der Mitte-Politiker und lacht laut. Den EU-Botschafter Petros Mavromichalis hat er während der Fasnacht in Basel auch gleich ins Boot geholt.
«Auf über 2000 Metern ist man per du», stellt Candinas gleich vor Abmarsch klar. Die Vertreterinnen und Vertreter der Länder kämpfen sich den Berg hinauf. Sechs Gebirgsspezialisten der Armee begleiten sie für den Fall, dass jemandem die Puste ausgeht. 300 Höhenmeter in zwei Stunden. Diplomatische Zurückhaltung ist da schnell vergessen, vielmehr rückt der sportliche Wettbewerb zwischen den Ländern in den Vordergrund. Liechtenstein und Belgien liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. «Wenn man als Kind schon wandern ging, verlernt man das nie mehr», sagt Botschafterin Doris Frick aus dem Fürstentum. Die Schlusslichter bilden Deutschland und Österreich. Candinas springt zwischen den Diplo- maten hin und her. Währenddessen fliegt ein Helikopter, beladen mit Sandwiches und Bündner Nusstorte, für den Apéro zum Tomasee hinauf.
Der Rhein ist der mächtigste Fluss der Schweiz und durchfliesst bis zum Meer ein Gebiet, in dem fast 60 Millionen Menschen leben. Mal wild und gefährlich, mal ruhig und imposant. Manchmal schäumend, manchmal spiegelglatt. Immer wieder bringt der Fluss Menschen zusammen. Etwa beim Rheinfall, der jedes Jahr über eine Million Besucherinnen und Besucher aus aller Welt nach Schaffhausen zieht. Oder in Basel, wo im vergangenen Jahr fast fünf Millionen Tonnen Ware die Schweizer Rheinhäfen passierten. Zirka zehn Prozent der eingeführten Güter kommen auf dem Wasserweg zu uns. Die Schweiz ist der Ursprung des Rheins, aber der Rhein öffnet für die Schweiz Türen zur Welt.
Kein anderer Fluss schreibt Geschichten wie dieser. Eine Sensation ereignet sich 1966, als ein Weisswal von der Nordsee bis nach Bonn hinaufschwimmt – und nach vierwöchiger Odyssee wieder zurück. Eine Katastrophe passiert 1986, als beim Brand einer Chemiefirma in Schweizerhalle BL das Löschwasser 20 Tonnen Gift in den Rhein schwemmt und das Fischsterben im rot gefärbten Fluss fast biblisches Ausmass annimmt.
Doch von diesen Geschichten weiss der Rhein an seiner Quelle noch nichts. Am Tomasee ist es ruhig. Oben angekommen, wollen die Botschafterinnen und Botschafter schauen, wer am längsten barfuss im Wasser stehen kann. Mehr als ein paar Sekunden hält es niemand aus, es ist nur drei Grad warm. Nur einer bleibt ganz cool. «Kaltes Wasser können wir», sagt der deutsche Botschafter Michael Flügger aus Hamburg.
Von hier gehts 1233 Kilometer bis nach Hoek van Holland, wo der Rhein in die Nordsee mündet. Als Vorbote steht der rote Leuchtturm am Oberalppass – hier endet die Wanderung der Botschafterinnen und Botschafter. «Diesen Tag werden sie so schnell nicht vergessen», ist Candinas sicher. «Der Rhein verbindet uns.»
800 Meter breit ist der Rhein zwischen Mainz und Bingen in Deutschland. Bei Rheinfelden ist er 32 Meter tief, das St.-Anna-Loch dort ist benannt nach der Patronin der Schiffer.
30 000 000 Menschen trinken täglich aufbereitetes Rheinwasser, das meist aus Uferfiltrat gewonnen wird.
64 Fischarten leben im Rhein – etwa die Schwarzmundgrundel, der Aal, der Lachs und der Wels. Letzterer lebt auch in der Schweiz als bis zu 2,5 Meter grosses und 130 Kilogramm schweres Tier.