Die Männer reden und reden. Am Rand stehen schüchtern die sechs Studentinnen der Universität von Tamil Nadu. Simonetta Sommaruga, 59, will wissen, wie der Klimawandel den Reisanbau in Indien verändert.
Nach dem offiziellen Teil kommt die Bundesrätin mit den Gartenbau-Studentinnen ins Gespräch: Was interessiert die jungen Frauen? Wo wohnen sie? Dann gibt sie ihnen diesen Rat mit auf den Weg: «Eine gute Ausbildung ist wichtig, damit ihr eigenes Geld verdient und unabhängig seid.»
Vier Tage reist Sommaruga durch Indien. Ob Studentinnen von Tamil Nadu, Müllsammlerinnen aus Coimbatore oder eine Bäuerin aus Delhi – die Bundesrätin sucht den Kontakt zu den Frauen. Und diese sind begeistert vom Gast aus der Schweiz. Die Studentinnen machen mit ihr ein Selfie. Die Müllsammlerinnen drücken ihre Handschuhe aneinander für eine herzliche Verabschiedung. Und die Bäuerin hält beim Gespräch Sommarugas Hand.
«Es fällt mir auf, wie offen und stark die Frauen hier sind», sagt die Bundesrätin. «Sie wollen etwas verändern. Auch wenn Indien noch immer eine konservative Gesellschaft ist, in der Männer das Sagen haben.»
Mit kleinen Gesten gibt Sommaruga Gegensteuer. Sie eröffnet eine von der Schweiz finanzierte Biogasanlage – und holt die Müllsammlerinnen mit aufs offizielle Bild. Sie geht zum Mittagessen – und sitzt lieber neben einer lokalen Mitarbeiterin der Schweizer Botschaft als neben dem Bürgermeister, der seit zwei Stunden auf sie einredet. «Ich habe in Indien auch zu Männern einen guten Draht gefunden. Aber ich mag es nicht, wenn sie aufs Foto drängen, obwohl Frauen die eigentliche Arbeit leisten.»
Sich vordrängen, das ist Sommaruga fremd. Ihre Botschaft ist dennoch klar. Wie daheim will sie in Indien den Klimawandel bekämpfen – mit Schweizer Technologie und Investitionen: «Der Klimawandel ist ein globales Problem – für das wir in der Schweiz Lösungen haben.» Deshalb hat die Vorsteherin des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation Schweizer Firmen mit auf ihre Reise genommen.
Auch hier sind ihr Berührungsängste fremd. Früher hatte Sommaruga als Konsumentenschützerin und SP-Politikerin eine kritische Haltung gegenüber grossen Unternehmen. In Indien plaudert sie entspannt mit Vertretern von Credit Suisse, ABB und Swiss Re. «Dank ihnen haben wir einen starken Hebel, um in Indien den Ausstoss von CO2 zu reduzieren.»
So investiert eine Firma der CS in indische Solaranlagen und Windparks – mit dem Geld von Pensionskassen und Versicherungen. Und kann hier grössere Anlagen bauen als in der Schweiz – und mehr CO2 reduzieren.
Natürlich machen das die Schweizer Firmen nicht aus Nächstenliebe. «Hier erwirtschaften wir 15 bis 20 Prozent Rendite», sagt Roland Dörig von Credit Suisse Energy Infrastructure Partners. In der Schweiz aber fallen im schlimmsten Fall Negativzinsen an. Doch auch die Risiken sind in Indien höher als in der Schweiz: «Es ist schon passiert, dass die indischen Stromkunden den vereinbarten Preis plötzlich senken wollten», sagt Dörig.
Deshalb brauchen die Schweizer Unternehmen in Indien Unterstützung durch den Bundesrat. In New Delhi trifft Sommaruga den Minister für Zivilaviatik. Im Mercedes S 400 der Schweizer Botschaft fährt sie zum Ministerium. Im Treppenhaus steht ein angestaubtes Modell eines Jumbo-Jets von Air India. Im Gang ein Schild in Hindi und Englisch: «Bitte nicht auf den Boden spucken.»
Der Minister hat Verspätung, der Gast muss warten. Endlich kommt Hardeep Singh Puri mit seinem hellblauen Turban und fragt, woher aus der Schweiz sie stamme. Um gleich zu sagen: «Ich selber komme aus Genf.» Alle lachen. Elf Jahre hat der Inder in der Schweiz gelebt, noch heute besitzt er dort ein Haus.
«Bundesrätin Sommaruga hilft durch ihre Gespräche, die Geschäfte zwischen Indien und der Schweiz zu erleichtern», lobt Sanjeev Sharma, CEO der indischen Niederlassung von ABB. In Bengaluru im Süden Indiens beschäftigt das Schweizer Unternehmen 12000 Mitarbeiter. Diese überwachen Tausende Roboter – auch in der Schweiz. Und schalten sich bei Problemen per Fernsteuerung zu. Das Bürogebäude von ABB könnte auch in Zürich stehen. Nur die Elefanten auf der Krawatte des Chefs erinnern daran, dass wir in Asien sind.
Den CO2-Ausstoss in Indien reduzieren und gleichzeitig Arbeitsplätze bei Schweizer Unternehmen schaffen: Das will Sommaruga auch bei der Eisenbahn. Sie besucht den Bahnhof Nizamuddin in der Hauptstadt New Delhi. Die Bundesrätin kennt die indischen Züge bestens. Als sie vor 15 Jahren Präsidentin der Hilfsorganisation Swissaid war, reiste sie mehrmals mit der Eisenbahn durch Indien.
Auf Gleis 5 wartet ein alter, überfüllter Regionalzug auf die Abfahrt. Die Menschen stehen auf der Einstiegsplattform, halten sich an einer Stange fest. «Von so vielen Passagieren im Regionalverkehr können die SBB nur träumen», scherzt Sommaruga. Und erschrickt, als der Zug abgefahren ist: Zwischen den Gleisen liegt ein regungsloser Mann. «Ist er tot?», fragt sie. Doch zum Glück bewegt er sich gleich darauf: Er hatte bloss ein Nickerchen gemacht.
Auch Stefan Rutishauser von Stadler Rail ist nach New Delhi gekommen. Hier begleitet er die SP-Bundesrätin zum Treffen mit Eisenbahnminister Piyush Goyal. Seit zehn Jahren versucht das Thurgauer Unternehmen, seine Züge nach Indien zu verkaufen – vergeblich. «Dabei wären wir sogar bereit, in Indien ein eigenes Werk zu bauen», sagt Rutishauser. Zurzeit bewirbt sich Stadler Rail erneut um einen grossen Auftrag. Und hofft, dass die Bundesrätin bisher verschlossene Türen öffnen kann.
Bei so vielen ernsten Themen geniesst Simonetta Sommaruga einen sinnlichen Moment umso mehr: In Coimbatore wird ihr ein traditionelles vegetarisches Thali serviert – 19 verschiedene Gerichte auf einem Bananenblatt. Niemand muss der Bundesrätin erklären, wie man den Reis mit der Hand isst. Sie ist in Indien längst zu Hause.