Als das Flugzeug zur Startbahn rollt, ist es erstaunlich still. Nur die Triebwerke brummen, und eine Katze miaut alle paar Sekunden. Die 90 Menschen in den Sitzreihen sagen nicht viel. Erst als die Maschine schneller wird und schliesslich abhebt, fangen die Frauen, Kinder und Männer an zu klatschen. Nadezda Medelian, 61, kommen die Tränen, während ihr Hund Richard auf ihrem Schoss sitzt. Sie alle fliegen in die dunkle Nacht, ohne zu wissen, was sie nach der Landung in der Schweiz erwartet.
Einige Stunden zuvor: Der Zuger Unternehmer Guido Fluri, 55, fliegt mit seiner Ehefrau Tânia Fluri-Simão, 44, und seinen Kindern Samuel, 20, und Luisa, 14, in einem leeren Airbus A320 mit 174 Plätzen von Zürich nach Krakau. «Das mache ich ganz bewusst, um ein Signal zu senden. Der Bundesrat macht bereits viel, aber gefährdete Menschen müsste die Schweiz aktiv hierhin holen und ihnen Schutz bieten. Das gehört zu unserer Tradition», sagt der Multimillionär. Es ist das zweite Mal, dass Guido Fluri mit seiner gleichnamigen Stiftung eine Edelweiss-Maschine gechartert hat, um Flüchtlinge zu evakuieren. Bereits zwei Wochen vorher hatte er 140 Frauen und Kinder in die Schweiz geholt.
Eisbrecher auf dem Handy
Nach einer Stunde und 45 Minuten landet er in der südpolnischen Stadt. Am Gate 7 warten Kinder mit ihren Müttern, Tanten und Grosseltern. Alle wirken müde, einige traurig. Guido Fluri hat Taschen voller Plüschtiere dabei. Er gibt jedem Kind eine Blaumeise. Die dreijährige Dana schaut den Unternehmer mit der Lederjacke zuerst etwas skeptisch an, als er ihr den Vogel hinstreckt. Doch dann zuckt er sein Handy und zeigt dem kleinen Mädchen Bilder seiner Katze. Und schon strahlt sie.
Am Gate 7 wartet auch Anna Ostashevsha, 42, mit ihren beiden Kindern. Ihr Ehemann musste zurückbleiben. «Er kämpft im Militär. Unsere Heimatstadt Mykolajiw wurde von Luftraketen angegriffen.» Fluri verteilt allen ein Käsesandwich und eine Flasche Wasser, bevor sie in das Flugzeug steigen.
Abends um halb neun landet das Flugzeug in Zürich. Mütter tragen ihre müden Kinder. Die Polizei begleitet die Gruppe zur Gepäckausgabe. Zwei oder drei Koffer sind das Einzige, was die Menschen haben mitnehmen können. Sie steigen in Cars und fahren los.
Zwei Tage später: Die Sonne scheint, der Himmel über Mümliswil SO ist strahlend blau. Oberhalb des Dorfes, an der Eingangstür eines ehemaligen Kinderheims, steht auf Ukrainisch: «Herzlich willkommen». Auf dem Vorplatz liegen Velos, Trottinetts und Bobby-Cars. Hier im Heim haben einige der Frauen und Kinder, die kurz zuvor in Zürich gelandet sind, ein temporäres Zuhause gefunden. Die anderen sind in Wohnungen in Melchnau BE untergebracht.
Kindheit in Armut
Als Guido Fluri sechs Jahre alt war, lebte er selber für eine kurze Zeit im Kinderheim auf dem Hügel. Sein Start ins Leben war nicht einfach. Seine Mutter war 17 Jahre alt, als er zur Welt kam, der Vater verheiratet. Ihn lernte Fluri nie kennen. «Wir konnten kaum die Rechnungen zahlen, im Dorfladen musste ich die Einkäufe oft anschreiben lassen.» Die Mutter erkrankte kurz nach seiner Geburt an Schizophrenie. Er wuchs abwechselnd bei ihr, in Pflegeeinrichtungen oder bei den Grosseltern in Matzendorf SO auf.
Bevor er Millionen mit Immobilien und Firmenbeteiligungen machte, jobbte der Zuger Unternehmer als Tankwart. Heute ist seine GF Group Holding AG mehrere Hundert Millionen Franken wert. «Ein Drittel der Einnahmen fliesst in die Stiftung und damit in wohltätige Projekte.» 2005 diagnostizierten die Ärzte beim dreifachen Vater einen gutartigen Hirntumor, der zehn Jahre später operiert werden musste. Heute macht sich seine Stiftung unter anderem für Menschen mit Schizophrenie, für die Hirntumorforschung und gegen Gewalt an Kindern stark. Schweizweit bekannt wurde Fluri als Vater der Wiedergutmachungsinitiative für Verdingkinder und durch seine Übernahme der Miss Schweiz Organisation, die er 2017 wieder verkaufte.
Geld spielt keine Rolle
Seit der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, sind mehr als dreieinhalb Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer geflohen, fast 20 000 sind in der Schweiz angekommen. «Kinder auf der Flucht in Europa – das ist fast nicht zu glauben!», sagt Guido Fluri. «Wer mehr Geld hat, soll auch mehr geben, finde ich.» Er betrachte eine solche Hilfsaktion als Teil der Verantwortung, die er habe. «Was nützt es mir, wenn ich eine Megayacht oder einen Privatjet kaufe? Das ist für mich kein Lebensinhalt.» Wie viel der gecharterte Flug gekostet hat, weiss er nicht – er geht von einem Betrag im fünfstelligen Bereich aus. «Das spielt aber keine Rolle. Wichtig ist, dass wir unkompliziert und schnell helfen.»
Das ehemalige Kinderheim in Mümliswil dient als Drehscheibe für alle, die ankommen. Die Frauen, Kinder und Familien bleiben in der Regel eine oder zwei Wochen hier. «Dutzende Schweizerinnen und Schweizer haben sich schon bei uns gemeldet und Unterkünfte angeboten», sagt Fluri. «Ich finde es richtig, wenn wir alle bereit sind, diesen Menschen zu helfen, die hier in Europa so grosses Leid erfahren.» Die Solidarität aus der Region sei unglaublich. «Die Leute bringen Essen, Kleider, sogar Bargeld vorbei. Ich bin sehr gerührt.»
Den ganzen Tag beschäftigt
Anna Ostashevska und ihre Kinder Andrij, 10, und Vladislava, 18, haben sich inzwischen in einem kleinen Zimmer eingerichtet. «Wir sind dankbar, dass wir hier sein können. Die Menschen sind nett zu uns», sagt die Mutter. Die Tourismus-Fachfrau hat bereits zusammen mit ihren Kindern das Dorf erkundet. «Alles ist organisiert – für uns gibt es nicht so viel zu tun.» Dem widerspricht ihr Sohn: «Es gibt hier so viele Spielsachen, ich bin den ganzen Tag beschäftigt.»
Anna Ostashevska und ihre zwei Kinder flüchteten mit der Bahn vom Süden des Landes westwärts nach Lwiw. Dort fanden sie Zuflucht in einer römisch-katholischen Kirche. Diese organisierte für sie eine Bus- fahrt bis zur polnischen Grenze – die sie zu Fuss überquerten. Danach ging es mit dem Bus weiter zum Flughafen in Krakau.
Rückflug garantiert
Um die Menschen von der Ukraine in die Schweiz zu holen, arbeitet die Guido Fluri Stiftung zusammen mit der ukrainischen Botschaft, dem Klub der katholischen Intelligenz Warschau und dem Malteserorden in Polen. «Vor allem Jaromir Sokolowski bin ich sehr dankbar», sagt Guido Fluri. «Der ehemalige polnische Botschafter in der Schweiz hat uns vor Ort enorm geholfen.» Nach dem Krieg sollen alle Menschen wieder zurück in ihre Heimat gehen können. «Ich musste der ukrainischen Regierung schriftlich versprechen, dass ich alle wieder zurückbringe», sagt Fluri. «Und das werde ich auch machen. Wieder mit dem Flugzeug.»
Sein Sohn Samuel, der für die Stiftung arbeitet, ist fast jeden Tag im Mümliswiler Kinderheim. Er fährt mit den Frauen zum Einkaufen, wenn sie neue Kleider oder Hygieneartikel brauchen. «Ich mache alles, wofür die andern keine Zeit haben. Ich helfe gern», sagt er.
Auch Ehefrau Tânia Fluri-Simão schaut alle paar Tage nach den Bewohnerinnen und Bewohnern. «Es ist wichtig, dass wir für sie da sind, dass wir ihnen zuhören», sagt sie. «Viele Frauen sind hier ohne ihre Männer, Väter und Brüder. Sie haben vieles durchgemacht und brauchen Nähe.» Hier finden die Familien zwar Ruhe, oft holen sie aber auch Angst und Trauer ein. «Manchmal reicht ein Gespräch, um sie zu trösten», sagt die promovierte Ökonomin. «Es tut auch mir gut zu helfen.»
Guido Fluri und Tânia Fluri-Simão lernten sich vor sechs Jahren kennen. Im Herbst 2019 heirateten sie in ihrem Wochenendhaus in Hertenstein LU am Vierwaldstättersee. Danach ging es weiter nach Portugal, zum Fest mit der Familie der Braut. «Ich bin Guidos grösster Fan», sagt Tânia Simão. «Und ich bin sehr stolz auf ihn. Für ihn wäre es ja viel einfacher, wenn er einfach Geld spenden würde. Aber er möchte die Dinge selber in die Hand nehmen. Ich bewundere seine Energie.»
Guido Fluri plant bereits den nächsten Flug – er will Heimkinder in die Schweiz holen. «Aber es muss ja nicht immer grad ein Flug sein. Wir alle können auch im Kleinen viel bewirken.»