«Ciao amore!» ruft Natalia Ferrara (40) ihrem Mann und ihren Söhnen zu. Am Gleis steht diesen Morgen Matteo (44) mit Leone (2) und Noè (7 Monate). Als Leone trotz seiner Begeisterung für Züge traurig den Blick abwendet, seufzt Ferrara. «Wenn ich zurück bin, spielen wir mit dem neuen Lastwagen», verspricht sie. Dann fährt der Zug los, ihre Familie verschwindet aus dem Blickfeld und Ferrara sucht sich einen Platz in der 1. Klasse.
Ziel ihrer Reise ist Zürich, wo am 19. März die UBS die Credit Suisse schluckte. Seither hat Natalia Ferrara 300 Medienanfragen erhalten und noch mehr Nachrichten von verängstigten Bankmitarbeitenden. «Auch wir haben im Moment mehr Fragen als Antworten», sagt die Geschäftsleiterin des Bankpersonalverbands.
Eine Passagierin kommt durch den Gang, legt Ferrara unvermittelt die Hand auf die Schulter, sagt «Grazie» und geht weiter. «Seit der CS-Übernahme passiert mir so was immer wieder», sagt Ferrara etwas verlegen. Wir nutzen die Zugfahrt, um über die wichtigsten Wegpunkte ihres Werdegangs zu sprechen.
Erste Station im Leben: Stabio
Das Dorf im untersten Zipfel des Tessins wird für ihre italienischen Eltern zur neuen Heimat, als Natalia drei Jahre alt ist. Der Vater arbeitet als Küchenhilfe in Kantinen, die Mutter ist Putzfrau. «Ich erinnere mich an zwei gemeinsame Weihnachtsfeste», sagt Ferrara. Als sie elf Jahre alt ist, reicht das Geld für ein eigenes Zimmer. Doch sie jammert nicht. «Menschen sind wichtig, und Arbeit bedeutet Würde. Das haben meine Eltern mir beigebracht – und dafür setze ich mich auch jetzt ein, wenn es um die Mitarbeitenden der Banken geht.» Mit zwölf beschliesst Natalia, dass sie Staatsanwältin werden möchte. Und findet heraus, dass sie dazu erst einmal den Schweizer Pass braucht. Die nötigen 4000 Franken kratzt Ferrara bei Unterstützern und mit Nebenjobs selbst zusammen. Und stellt damit die erste Weiche für ihre Zukunft.
Zweite Station: Lugano
Hier realisiert Ferrara ihren Kindheitstraum und arbeitet als Staatsanwältin für internationale Rechtshilfe und Finanzdelikte. Dabei lernt sie ihren Mann Matteo Gianini kennen. «Sie hat mich für fünf Jahre ins Gefängnis gesteckt», hatte er am Morgen in Bellinzona gescherzt. Nein, er war Chef der Personalkommission der Tessiner Bank BSI, die von der Privatbankengruppe EFG übernommen wurde. Klingt bekannt? «Ich verstehe sehr gut, wie Natalia sich seit der CS-Übernahme fühlt», hatte Matteo gesagt. «Wir wissen, was eine solche Fusion bedeutet. Aber dieses Mal sind noch viel mehr Leute betroffen.»
«Gegen aussen sitzen die Anzüge der Banker, aber innerlich brechen sie zusammen»
Natalia Ferrara
Lugano ist der Lebensmittelpunkt der Familie. Dort renovieren sie ein Haus, in das auch die Eltern von Natalia einziehen werden. «Das habe ich mir immer gewünscht», sagt sie. Dann unterbricht sie sich selbst. «Oh Moment, das muss ich mir ansehen.» Sie spielt auf dem Handy ein Video von UBS-CEO Sergio Ermotti ab, der die Quartalszahlen der Bank kommentiert. Als er davon spricht, «Klarheit für die Zukunft» schaffen zu wollen, nickt sie entschlossen – «darin sind wir uns einig!»
Einmal ist sie ihm begegnet. Bei der Übernahme der Bank ihres Mannes traten sie gemeinsam in einer TV-Sendung auf. «Seither habe ich ihn nicht mehr getroffen.» Ferrara, die früher als Staatsanwältin kriminellen Bankern das Handwerk legte, stellt sich nun schützend vor das Personal der Credit Suisse und der UBS. Ein Widerspruch? «Ma no!», widerspricht sie. «Das ist etwas komplett anderes! Ja, es wurden Fehler gemacht und manche Topmanager sind zu viele Risiken eingegangen. Aber das heisst doch nicht, dass die 40'000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Banken mitschuldig sind.»
Dritte Station: Sri Lanka
2016 infizierte Natalia Ferrara sich in Sri Lanka mit dem Denguefieber. Die Folgen: eine Woche Koma, 20 Kilo runter und wieder rauf, Haarausfall und ein Jahr, in dem sie fast nicht laufen konnte. «Ich habe vom Bett aus gearbeitet und Politik gemacht», sagt sie. Von den drei Jahren, die sie brauchte, um wieder ganz gesund zu werden, erzählt sie nur, wenn sie danach gefragt wird. «Es war wirklich eine schwierige Zeit. Doch das Gute ist, dass ich jetzt das Gefühl habe, dass ich alles schaffen kann. Sogar diese Bankenfusion!» Als der Zug in Zürich einfährt, nimmt sie noch einmal das Handy hervor. Ihre Nanny hat grad ein Video vom Spielplatz geschickt: Leone und Noè beim Schaukeln – Energieschub für Ferrara vor den Sitzungen, die jetzt anstehen.
Vierte Station: Zürich
Am Paradeplatz dürfen wir sie nur bis zum Eingang der UBS begleiten. Im Innern verhandelt Ferrara mit Vertretern der Bank über die Forderungen ihrer Gewerkschaft. Auf Ferraras Wunschliste stehen: Kündigungsstopp bei beiden Banken bis Ende Jahr, Kündigungsschutz für über 55-Jährige und ein erweiterter Sozialplan mit Sondermassnahmen. Nach dem Treffen sagt sie: «Es war gut, aber wir haben viel Arbeit vor uns.» Die Zeit nach dem 19. März hinterliess bei ihr Spuren. «Meine Coiffeuse entdeckte ein grosses Büschel grauer Haare und meinte nur: ‹Bei dir ist wohl was passiert im Leben.›»
Die FDP-Grossrätin weiss, dass die Öffentlichkeit nicht nur Sympathien für die Banker hat. «Klar kann man denken: ‹Denen gehts doch gut, die sollen nicht jammern.› Aber wir reden hier von Menschen, die Kinder haben. Menschen, die kranke Verwandte pflegen. Menschen, die Angst haben, dass sie jetzt einfach aussortiert werden.»
Menschen, die sich bei Natalia Ferrara melden, statt bei der bankeigenen Hotline. «Sie wollen nicht, dass ihre Vorgesetzten von ihren Zukunftssorgen erfahren», sagt Ferrara. «Schwäche zu zeigen, ist in der Bankwelt ganz schwer. Gegen aussen sitzt bei allen der Anzug tipptopp, aber innerlich brechen sie zusammen.» Sie hofft auf eine bessere Unternehmens- und Fehlerkultur bei den Banken. «Es kann nicht sein, dass die Mitarbeitenden sich wegducken oder die Stelle wechseln, statt Kritik am Chef zu äussern.» Von der Politik erwartet sie mehr Aufmerksamkeit. «Bundesrat Guy Parmelin sagte mir, dass er sich gewünscht hätte, die CS hätte schon vor dem Krach nach Unterstützung gefragt. Es braucht da mehr Zusammenarbeit.»
Was Ferrara nicht will: strengere Regeln für die Banken. «Als Freisinnige habe ich gar keine Mühe mit sehr gut bezahlten Managern. Aber sie müssen zur Kasse gebeten werden, wenn sie ihren Job nicht richtig machen.» Sonst würden sie das Vertrauen in das wichtigste Kapital verspielen: «Was macht die Schweizer Banken denn so erfolgreich?», fragt Ferrara rhetorisch. «Es ist weder die Software noch die schöne Lage hier am Paradeplatz. Es sind schlicht und einfach die Menschen!»