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Murat Yakin vor der Fussball-WM

«Ich spüre die Euphorie»

Es ist seine erste WM ­überhaupt! Der Schweizer Fussball-Nationaltrainer Murat Yakin bereitet sich mit Akribie und Intuition auf die Aufgabe in Katar vor. Und lässt seine beiden Töchter an den Spieltagen länger aufbleiben.

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Murat Yakin, 2022

Immer noch entspannt, obwohl am 20. November die WM beginnt: Murat Yakin in der Yakin Arena in Oberengstringen ZH.

David Biedert

Hand aufs Herz und losgesungen! Aus den Boxen erklingt die Schweizer Nationalhymne, Murat Yakin steht mit dem Team in einer Reihe. Neben ihm aber nicht Sommer, Xhaka & Co., sondern Spieler der Schweizer Fan-Nationalmannschaft. Diese werden in Katar gegen die Anhänger der anderen Nationen ihre eigene WM spielen und kommen nun in den Genuss eines Spezialtrainings des Schweizer Nati-Trainers. Der das Ganze mit Charme und seiner üblichen Lockerheit angeht. «Seid ihr schon warm?» Schweigen wie in der Turnstunde früher. «Wir sind intensiv an der Gegnerbeobachtung, ich hoffe, bei euch findet das auch statt?» Gelächter.

«Ein Moment, in dem ich nicht an die WM denke? Praktisch unmöglich»

Es ist einer der letzten Auftritte des Nationaltrainers vor der WM, praktisch zu Hause, in der mit Bruder Hakan initiierten Yakin Arena in seinem Wohnort Oberengstringen ZH.

Hand aufs Herz, Murat Yakin: Wie ist die Gefühlslage zwei Wochen vor der WM? «Die Anspannung steigt schon langsam», sagt der 48-Jährige. Das merkt man ihm allerdings nicht an. Oder nur in Nuancen. Vielleicht bleibt er ein bisschen vager in den Antworten, plaudert ein bisschen weniger aus dem Nähkästchen. Aber sonst: ebenso gelassen wie fokussiert. Im Wissen, dass er und sein Staff alles tun, um die WM gut vorzubereiten – und er für den Rest seiner Intuition vertraut. «Ein Moment, in dem ich zurzeit nicht an die WM denke? Praktisch unmöglich», sagt der Baselbieter. Er mag diese Wechsel von intensiven und ruhigeren Phasen in seinem Job, mochte diese schon als Spieler, und momentan ist die Intensität so hoch wie nie.

Murat Yakin, 2022

Ein bisschen Spass muss sein: Yakin gibt dem Schweizer Fan-Nationalteam, das in Katar die Fan-WM bestreitet, ein Training.

David Biedert

Ein ziemlich wilder Ritt hat Yakin bereits hinter sich in den 15 Monaten, seit er vom Challenge-League-Trainer zum Nationalcoach befördert wurde. Zuerst die WM-Qualifikation im letzten Spiel, die ihn vor einem Jahr innert Kürze zum Liebling der Nation hat werden lassen. Yakin hier, Yakin dort, Yakin überall, und für eine Zeit genoss er das Bad in der Menge. Dann folgten im Frühling vier Niederlagen hintereinander und die Reaktion mit drei Siegen, unter anderem über Portugal und Spanien. Yakin schätzt im Hinblick auf die WM die Reihe von starken Gegnern und bleibt zu jeder Zeit ruhig. «Ich habe sicher den Vorteil, dass ich das nüchtern und realistisch einschätzen kann. Dass ich es nicht überbewerte, wenn wir Erfolg haben, und Niederlagen nicht zu kritisch anschaue.» Nach den Niederlagen die richtigen, aufbauenden Worte finden, sachlich und fachlich analysieren, wieso was nicht geklappt hat, es dann besser machen. «Ich spüre die Euphorie der Menschen immer noch täglich auf der Strasse.»

Töchter dürfen länger aufbleiben

Auch seine Töchter, acht und zehn Jahre alt, spüren diesen Sog des starbesetzten Schweizer Ensembles und ihres schillernden Trainers und Papis. «Die Mädchen bekommen es nun intensiv mit», sagt Yakin. «Als ich noch nicht Nati-Trainer war, war alles sehr beschaulich, auch bei ihnen in der Schule.» Neu dürfen die beiden an den Spieltagen länger aufbleiben, sodass sie ihren Vater auch mal im Fernsehen in Action erleben. Aber: Die Schule hat Priorität. Logisch, dass seine Frau Anja und die Töchter deshalb nicht mit nach Katar reisen.

Murat Yakin, 2022

Yakin überdenkt jeden Spielzug, vertraut beim Coaching aber auch auf seine Intuition und Erfahrung.

David Biedert

Mit der Euphorie ums Nationalteam hat der Name Yakin nochmals an Fahrt aufgenommen. Für ihn selbst, da er in dieser Rolle plötzlich die ganze Schweiz als Fans hat. Er registriert das Interesse, ändern tut sich für ihn jedoch nichts. «Ich bin seit 30 Jahren in diesem Business dabei. Ich habe mich nicht verändert, bin immer noch derselbe, zugänglich und offen.»

Und nun steht sie also endlich an, die WM. «Das ist auch für mich speziell, meine erste.» Yakin hat als Spieler zwar 49 Einsätze für die Nationalmannschaft absolviert, allerdings qualifizierte sich die Schweiz in diesen Jahren nie für eine WM. Sein Debüt in Rot-Weiss gab er drei Monate nach der WM 1994 als 20-Jähriger gegen die Vereinigten Arabischen Emirate in den USA, wo er nach einem starken Auftritt wegen eines übereifrigen Schiedsrichters mit Gelb-Rot vom Platz flog. Der letzte Einsatz datiert vom Oktober 2004, an der WM 2006 in Deutschland war er damit nicht mehr dabei.

 

Murat Yakin, 2022

Qual der Wahl: Am 9. November gibt Yakin sein Kader bekannt. Vor allem im Sturm hat er ein Luxusproblem.

David Biedert

Umso hungriger ist er nun. Ob der Qualität und des Zusammenhalts seiner eingeschworenen Equipe gerät er regelrecht ins Schwärmen. Mit Weltklassespielern wie Granit Xhaka oder Manuel Akanji in Topform lässt es sich träumen. Wobei mit Yann Sommer die Macht im Tor nach einer Knöchelverletzung noch unsicher ist. Der Verband ist aber zuversichtlich. «Ich habe nur einmal mit ihm telefoniert, aber unser Goalie-Trainer und Yanns Arzt sind in engem Austausch», sagt Yakin.

Alles ist angerichtet

Dass das Turnier in Katar von grossen Nebengeräuschen begleitet wird, war für das Team das ganze Jahr über ein Thema. «Klar stimmt uns traurig, was passiert ist.» Ein Maulkorb kriegen die Spieler nicht; wer sich äussern will, darf. Ums Politische würde sich nun aber sicher die Verbandsspitze kümmern, sodass sich das Team auf den Fussball konzentrieren könne.

Und das tut Yakin wie gewohnt: Stundenlang denkt der Schach-Liebhaber akribisch alle möglichen Spielzüge des Gegners durch. Um dann am Spielfeldrand mit seiner Intuition und Erfahrung zu coachen. Das Selbstvertrauen ist da, die Klasse auch, alles ist angerichtet. Das Gesamtbild fügt sich zusammen. Die WM kann kommen. Wenn die Nationalhymne das nächste Mal erklingt, wird es kribbeln. Und zwar so richtig.

Von Eva Breitenstein am 4. November 2022 - 17:23 Uhr