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Kommentar zur Genderdebatte

Nemo will reden – hören wir zu!

Die Debatte um nonbinäre Identität wird seit dem Sieg von Nemo am Eurovision Song Contest wieder hitzig geführt. Dabei braucht das Thema lediglich mehr Gelassenheit und ein offenes Ohr für das Gegenüber, findet Onur Ogul. Der 35-Jährige ist ehemaliger SI-Journalist und war Autor ­eines Blogs über das Leben als Homosexueller.

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Nemo - ESC Eurovision Song Contest Malmö Schweden - April 2024 - Copyright Olivia Pulver Nemo in Malmö für den Eurovision Song Contest © Olivia Pulver

Nemo holt mit dem Sieg in Malmö den Eurovision Song Contest im kommenden Jahr in die Schweiz.

Olivia Pulver

Was sagen Sie? Liegt Biel in der Deutschschweiz oder in der Romandie? Ist Fondue eine Suppe oder eine Sauce? Ist Schweizerdeutsch eine eigene Sprache oder nur ein Dialekt? Wir antworten jeweils mit Schmunzeln und Stolz: Weder noch oder sowohl als auch – Hauptsach, s isch guet.

Ganz anders reagieren viele auf nonbinäre Personen wie Nemo: Frau oder Mann? Weder noch? Sowohl als auch? Auf Ratlosigkeit und Verwirrung folgt vielleicht Frust, sogar Wut oder Hass. Das zeigen eklige Kommentare in sozialen Medien, als Nemo den Sieg am Eurovision Song Contest für die Schweiz einfuhr. Wieso nur reagieren wir so unterschiedlich auf Menschen und Dinge, die in keine altbekannte Kategorie fallen?

Nemo trat an, um zu erzählen, wie anstrengend das Leben als nonbinärer Mensch ist, also als jemand, der sich weder als Mann noch als Frau fühlt. «Ich habe genug von diesem Spiel», singt das Ausnahmetalent. «Ketten» musste Nemo sprengen, um sich von den Spielregeln zu befreien. Sogar «in die Hölle und zurück» führte der Weg, um endlich «den Code» zu brechen, in den Nemo hineingezwängt wird. So wie Sie und ich übrigens auch.

Wir Menschen leben und denken so gern in binären, also zweiteiligen Codes: Gut-Böse, Himmel-Hölle, Leben-Tod – und eben Mann-Frau. Es erleichtert uns das Denken, es gibt uns Sicherheit. Dabei sind wir gar nicht konsequent: Was lieben wir hierzulande doch die bequeme Mitte! Zwischen weltpolitischen Lagern bleiben wir neutral. Vom EU-Raum profitieren, aber kein Mitglied sein. Und im Herbst trinken wir feinen Sauser, was weder Wein noch Traubensaft ist – Hauptsach, s isch guet.

Sobald aber der einzelne Mensch aus diesem binären System ausbricht und das auch noch zeigt, wird ein Nerv getroffen. Alt Bundesrat Ueli Maurer bezeichnete nonbinäre Menschen despektierlich als «Es» und verlautbarte, so jemand solle ja nicht seine Nachfolge antreten. Wie sollen sich denn junge Menschen wie Nemo fühlen, wenn Personen bis in die obersten Machtsphären einem den Respekt oder gar die Existenz absprechen? Was Nemo ist, soll Nemo nicht sein. Wo Nemo sein will, gibt es keinen Platz.

«Menschen, oft junge, die nicht der gewohnten Norm entsprechen, wollen ihre Andersartigkeit nicht mehr verstecken»

Onur Ogul

Nicht so beim Eurovision Song Contest. Seit Jahren finden dort Minderheiten eine Plattform, man hört ihnen zu. Für gewöhnlich verfolgen weltweit mehr als 150 Millionen Menschen die Show. Nemo besang vor ihnen, wie hart der Weg aus der Hölle ins Paradies war. Ganz ohne Vorwürfe, denn das Paradies ist allein schon die Erkenntnis, sich nicht in den binären Code einreihen zu müssen. Nemo steht hin und ruft: So bin ich, lebt damit!

Genau hier spriesst wohl das Unbehagen mancher. Menschen, oft junge, die nicht der gewohnten Norm entsprechen, wollen ihre Andersartigkeit nicht mehr verstecken. Sie stellen uns am Arbeitsplatz, in der Familie und im Freundeskreis oder eben auf Bühnen vor Tatsachen, die sich allem entziehen, was wir bisher kannten. Nicht dieses sich Hinstellen ist Grund zur Sorge, sondern der Umgang mit einer solchen Konfrontation.

Viele sind gehemmt: Wie spricht man mit und über Nemo? Niemand tritt gern in Fettnäpfe. Aus Angst versteifen sie sich darauf, was sie immer kannten – was in Ignoranz und Aggression mündet. Wer solchen Menschen wiederum mit Tadel und erzieherischem Mahnfinger begegnet, provoziert unproduktive, nicht endende Konflikte. Begegnen wir einander aber auf Augenhöhe, sehen wir die Ängste und Bedürfnisse des Gegenübers, kommen wir ins Gespräch, so lernen wir: Es gibt nichts zu verlieren, nur etwas zu gewinnen. Leider leisten zurzeit fast nur die betroffenen Minderheiten diese kräftezehrende Arbeit.

Auch Nemos ESC-Beitrag ist ein Gesprächsangebot: Seht mich an, so bin ich, so schwer habe ichs, lasst uns darüber reden! Gerade wir sind angesprochen. Denn während andere Staaten, darunter Deutschland und Österreich, rechtlich eine dritte Geschlechtsoption anerkennen, steht die Schweiz still. Rümpfen wir nun die Nase und schauen genervt weg, weil wir uns nicht betroffen fühlen? Oder nutzen wir die Gelegenheit und steigen ins Gespräch ein, um Neues zu lernen? Ich wünsche mir Letzteres, denn durch Ignorieren verschwinden nonbinäre Menschen und ihr Leid nicht.

Mit anständigen Fragen und offenem Ohr kann man nichts falsch machen. Nur eine Frage hat definitiv ausgedient: Ist Nemo eine Frau oder ein Mann? Denn die urschweizerische Antwort darauf kennen wir: weder noch oder sowohl als auch – Hauptsach, en guete Mensch!

Von Onur Ogul am 17. Mai 2024 - 18:00 Uhr