Träskor» – Holzschuhe –, sagt der Verkäufer in dem kleinen Souvenirladen in der Innenstadt von Malmö, seien mindestens so typisch schwedisch wie Knäckebrot oder Zimtschnecken. Nemo (24) entscheidet sich für Pink. Passend zum Bühnenoutfit fürs Halbfinale. «Tragen werde ich sie da wohl kaum», sagt unsere ESC-Vertretung lachend und legt die Treter auf den Tresen. Dazu noch ein buntes Minihuhn aus Holz. «Ist das auch schwedisch?», will Nemo vom Verkäufer wissen. «Das? Nein. Das ist nichts.» – «Passt», sagt Nemo. «Ich kaufe es.»
Nemo heisst wirklich so. Mit vollem Namen Nemo Mettler. Nemo ist lateinisch und bedeutet auf Deutsch: niemand. Der Hintergedanke der Eltern bei der Namensgebung: Wer niemand ist, kann alles werden. Zum Beispiel Kapitän wie in Jules Vernes «20 000 Meilen unter dem Meer». Oder Clownfisch wie im Kult-Trickfilm «Finding Nemo». Oder eben Nemo aus Biel: erste Musical-Rolle mit 13 in «Ich war noch niemals in New York», mit 16 Teilnahme beim SRF-Bounce- Cypher, wo gestandene Musikerinnen und Musiker an die Wand gerappt werden. Und als Nemo 17 ist, stehen daheim fünf Swiss Music Awards im Regal. «Crazy», sagt Nemo über diese Zeit. Zu verrückt. Denn das Kind, das «Niemand» heisst, ist plötzlich alles – Wunderkind, Übertalent, Projektionsfläche für Fans und Medien. Schwierig, wenn alle zu wissen glauben, wer man ist, wenn man sich selbst noch sucht.
Nemo zieht sich zurück, geht zuerst nach Los Angeles, dann nach Berlin – und findet Nemo. Im vergangenen Jahr die Rückkehr in die Öffentlichkeit. Mit neuer Musik, in Englisch statt Mundart wie bisher. Und mit einer Bitte: Nemo identifiziert sich mit keinem Geschlecht und möchte nicht mehr mit dem Pronomen «er» angesprochen werden. «Nemo ist einfach Nemo.» Der Song «This Body» beschreibt den Kampf mit sich selbst: «Wäre dieser Körper ein Haus, würde ich es niederbrennen und mir einen Platz schaffen, an dem ich mich sicher fühle.»
Den Code geknackt
Mit Songzeilen wie diesen spricht Nemo vielen Menschen aus dem Herzen. Kein Wunder, dass die Erfolgsachterbahn sofort wieder Fahrt aufnimmt. Auch mit Nemos ESC-Song «The Code» können sich viele identifizieren. Darin heisst es zwar «Ich ging durch die Hölle und zurück», aber auch: «Jetzt habe ich das Paradies gefunden. Ich habe den Code geknackt.» Die Stärke, die aus dem Song spricht, widerspiegelt durchaus Nemos derzeitigen Gemütszustand: «Ich habe viel Selbstvertrauen. Und ich bin unglaublich glücklich und dankbar, dass ich all das hier erleben darf.»
«All das» ist unter anderem eine Favoritenrolle beim Eurovision Song Contest – die Buchmacher attestieren der Schweiz zurzeit eine 24-Prozent-Gewinnchance –, die Nemo selbst nicht ganz geheuer ist: «Der Druck ist schon gross. Aber letztlich versuche ich vor allem, die beste Version von mir selbst zu sein.» Neben der Bühne wirkt Nemo offen, herzlich, aber auch bescheiden und zurückhaltend. Letzteres ist unter anderem ein Grund dafür, dass Imre, ein Kumpel aus Kindertagen, in den vergangenen Tagen an Nemos Seite war: Die beiden sind per Autostopp nach Malmö gereist. «Imre ist super darin, Menschen anzuquatschen.» Vier Tage lang war das Duo unterwegs. «Die Begegnungen waren grossartig», erzählt Nemo. Das junge Paar zum Beispiel, das sie bis in die dänische Hauptstadt Kopenhagen chauffierte, habe sich zuerst sehr misstrauisch gegeben. Es stellte sich aber heraus, dass beide riesige Eurovision-Fans sind: «Wir haben in diesem Auto drei Stunden lang ESC-Songs gehört und mitgesungen.»
Die ungewöhnliche Anreise hat übrigens einen ganz eigenen Grund: «Ich hätte stattdessen noch vier Tage zu Hause sitzen und nervös werden können. Deshalb entschied ich mich, diese Zeit anders zu nutzen.» Kumpel Imre hat Malmö direkt nach der Ankunft verlassen, wird aber aufs Halbfinale hin wieder anreisen (diesmal nicht per Anhalter), ebenso wie eine Handvoll weiterer Freundinnen und Freunde sowie Nemos Eltern und Schwester Ella. Mit ihr ist Nemo auch beruflich stark verbandelt; sie schiesst zum Beispiel die meisten Fotos von Nemo und hat beim Videoclip zu «The Code» Regie geführt.
Nemo schnappt sich die Tasche mit den Holzschuhen und dem Huhn und tritt auf den «Lilla Torg», den Hauptplatz in Malmö. Es sind zwar noch einige Tage bis zum Halbfinale am 9. Mai, aber Zeit ist jetzt schon ein knappes Gut. Alle reissen sich um die Schweizer Hoffnung, Nemo spurtet von Interview zu Kostümprobe zu Bühnenprobe. «Anfangs war ich hypernervös, doch ich sehe, dass es funktioniert, darum bin ich etwas entspannter. Aber es gibt auch noch sehr, sehr viel zu tun.»
Darüber, ob «The Code» den ESC-Sieg tatsächlich in die Schweiz holen könnte, macht sich Nemo noch keine Gedanken. «Es kann immer alles passieren. Aber ich habe schon vor, das Ding zu rocken. Wenns reicht, bin ich mega happy – auch wenn ich mir wohl gar nicht vorstellen kann, was dann auf mich zukommt.» Sieg hin oder her: Nemo ist bereits auf dem Weg, international Karriere zu machen, arbeitet mit Songschreibern und Produzentinnen in ganz Europa zusammen. Und was immer auf diesem Weg passiert – der Blick auf die pinkfarbenen «Träskor» aus Malmö wird Nemo ein Leben lang an etwas ganz Grosses erinnern.