Einer der Brüder klopft dreimal auf die Holzbank. Auf dieses Zeichen erheben sich alle sechs. Es ist Bruder Crispin, der nun einen monotonen Gesang anstimmt. Er hat eine schöne Stimme, und man versteht jedes seiner Worte, deshalb mögen ihn die anderen gern als Gebetsleiter. Wenn er eine Pause macht, antworten sie ihm singend – wie aus einem Mund.
Es ist 6.40 Uhr in Olten. Jeden Morgen treffen sich die Kapuziner in diesem Raum, gleich neben der kleinen Kirche, um zu beten. «Oh Gott, komm mir zu Hilfe», sprechen sie gemeinsam. Und: «Im Schatten deiner Flügel finde ich Zuflucht.»
Bald müssen die sechs Kapuziner ausziehen und das Kloster verlassen. Der jüngste ist 78 Jahre alt, und der Ort, den sie zurücklassen, ist für die meisten seit Jahrzehnten Heimat. «Natürlich ist es schade, dass das hier zu Ende geht», sagt Bruder Josef (80) beim Zmorge im Refektorium. Doch der Entscheid der Ordensleitung ist gefallen. Es fehlt der Nachwuchs. Die Gemeinschaften müssen sich zentrieren, weil sie älter und schwächer geworden sind.
Josef ist der Chef dieser speziellen WG, der «Guardian», wie das bei den Kapuzinern heisst. Die konzentrierte Stimmung des Morgengebets ist verflogen, die Kaffeemaschine brummt. Josef trägt eine dunkle Brille und einen leichten Geruch von Aftershave. Seit 23 Jahren lebt er hier. Nun muss er dafür sorgen, dass der Umzug der Kapuziner Ende Mai in andere Klöster gut klappt. Zwei Brüder werden sogar ins «Ausland» versetzt, erzählen sie beim Zmorge mit Schalk in den Augen – «Wir müssen nach Wil, St. Gallen.»
«Ich war in der Opposition»
Josef will uns «Schwestern» das Haus zeigen. Oben im Estrich ist schon fleissig geräumt worden. Trotzdem steht noch vieles herum, was nicht entsorgt, sondern an Flohmärkte gegeben und verschenkt werden soll: Kisten, Kerzenständer, Koffer. Die Franziskaner sind bekannt für ihre Weltoffenheit oder – anders gesagt – für ihre Missionarstätigkeit. Bruder Werner (78) zum Beispiel war auf den Seychellen stationiert.
Ausser dem Estrich müssen noch 20 bis 25 weitere Zimmer geräumt werden. Wie viele es sind, weiss Josef nicht genau. Seit 378 Jahren leben Kapuziner im Kloster Olten. Im Jahr 1646 wurde es von ihnen gegründet. Das imposante Gebäude steht mitten in der Stadt, direkt an der Aare und fünf Minuten vom Bahnhof entfernt. Mit den letzten sechs Brüdern geht diese bisher ununterbrochene Geschichte zu Ende.
«Am Anfang war ich in der Opposition», erzählt Josef. «Olten kann man doch nicht einfach aufgeben, fand ich.» Gab es in den 1960er-Jahren noch 850 Kapuziner in der Schweiz, sind es heute weniger als 100. «Ich will mir das Leben wegen dieses Umzugs nicht versauern», sagt Josef. In seinem Zimmer liegen die Pantoffeln noch vor dem Bett, die Medikamente im Regal. Das Telefon klingelt. «Nein, ist gut, wir brauchen keine. Das Kloster wird geschlossen.» Der Anrufer wollte neue Opferkerzen verkaufen.
«Eine finanzielle Belastung»
Einen Stock tiefer wohnt Bruder Crispin, «unser Senior», wie ihn die anderen nennen. Er ist 89 Jahre alt, seit sieben Jahren in Olten – und sprüht vor Energie. «Das hab ich von meiner Mutter», sagt Crispin, «die war auch ganz aufgestellt.» Unter seinem Schreibtisch steht eine Flasche Rotwein. Der grosse Mann mit dem weissen Bart hilft regelmässig bei Gottesdiensten in der Region aus. «Da fahr ich mit meinem Stadtpanzer hin», sagt er. So nennen die anderen Brüder seinen rüstigen Subaru.
Crispin kommt aus Nidwalden und hat lange als Wallfahrtspriester im Entlebuch gearbeitet. Als er sich den Kapuzinern anschloss, war sein Vater nicht begeistert. «Die Ausbildung war eine finanzielle Belastung.» Hier im Kloster gibts nun aber eine Einheitskasse. Alles, was die Brüder verdienen, fliesst in einen Topf, mit dem dann zum Beispiel die Heizkosten für das grosse Haus bezahlt werden.
Das Gebäude gehört dem Kanton. Die Stadt Olten hat Interesse an der Liegenschaft signalisiert. Wie sie in Zukunft genutzt werden soll, ist noch nicht klar. Verschiedene Varianten werden geprüft, und es entstand ein Verein, der sich für den Erhalt der Kirche und des Gartens einsetzt.
«Wie Aasgeier»
Das alles wird Bruder Crispin nicht mehr betreffen. Ab Juni kommt er «in die Psychi», wie er scherzt. Seine neue Heimat ist das Kloster Schwyz, zu dem eine Krankenstation gehört. «In meinem Zimmer dort steht sogar ein Krankenbett», erzählt Crispin. «Das kann ich dann gleich als Sterbebett nehmen!» Er lacht. «Jammern bringt nichts.» Kapuziner sind es gewohnt, versetzt zu werden, Crispin ist so schon in der halben Schweiz herumgekommen. Doch ob er den Umzug im 90. Lebensjahr wirklich so locker nimmt? «Vielleicht vertuschen wir unsere Gefühle ein wenig», sagt er. «Komisch ist es schon.»
1932 nach Christus
wurde das Kloster Olten um eine Etage erhöht, weil es so viele Neueintritte gab. Die Bundesverfassung verbot
damals jede weitere Klostergründung.
350'000 Franken
Erlös aus acht Adventsmärkten im Klostergarten wurden an Armutsbetroffene im Ausland und in der Schweiz gespendet. 2018 fand der letzte Adventsmarkt statt.
74 Jahre
betrug das Durchschnittsalter der Schweizer Kapuziner im Jahr 2018.
Unten im Essensraum, dem Refektorium, hängt ein Gemälde. Es zeigt das Kloster, umgeben von fliegenden Wesen, abstrakten Monstern. «Eine Oltner Fasnachtszunft hat uns das Bild geschenkt», erzählt Bruder Josef. «Es zeigt, wie wir uns nach dem Entscheid fühlten. Als würden über unserem Kloster bereits die Aasgeier kreisen, die sich die besten Stücke schnappen wollen.»
Die Gemälde und Möbel in den Gängen sind bereits mit Zetteln versehen, die angeben, wohin das jeweilige Stück kommt. Ins Historische Museum Olten etwa. Und da ist ja auch noch die Bibliothek im ersten Stock mit mehreren 100 Büchern. «Um die tut es mir am meisten leid», sagt Josef, der selbst nach Luzern ziehen wird. Bruder Peter (84) hielt sie «tipptopp in Ordnung».
Bruder Julius (85) geht leicht gebeugt und wird von allen liebevoll «Juli» genannt. «Achtung, er ist ein Sammler», warnen sie, bevor man sein Zimmer betritt. Tatsächlich sieht es hier nicht aus, als ob ein Umzug bevorstünde. «Ich müsste meinen Schrank ausräumen, das hab ich bisher usegstüdelet», sagt Julius. Immerhin hat ihm das Zügle ein neues Gebiet eröffnet: Er sammelt nun Kisten in allen Grössen. «Die kann man immer brauchen.»
Der Blick auf den Friedhof
Von seinem Zimmer aus sieht er auf den kleinen Klosterfriedhof, wo seine Vorgänger und Mitbrüder begraben sind. Das hätte auch die letzte Ruhestätte der sechs Brüder sein sollen, nun kommt es anders. Julius schenkt uns Fotos vom Kloster, die er selbst gemacht hat. Bäume im Sonnenuntergang, Ahornblätter im Herbst. «Braucht ihr vielleicht noch einen Wecker?», fragt er, den wolle er jetzt sowieso loswerden.
Vor dem Umzug Ende Mai machen Josef, Werner und Crispin noch eine gemeinsame Italienreise. «Und wir werden uns sicher auch danach noch häufig sehen», sagt Josef. Ihre neuen Mitbewohner kennen sie bereits von den Kapuzinertreffen. «Wir alle sind Brüder, und es gibt überall welche mit Format.»
Und irgendwann wird auch Bruder Julius, der Sammler, parat sein für diesen Umzug. Denn, wie er selbst zum Abschied sagt: «Es änderet gäng mängs im Läbä.»